Die neue Entdeckung der Langsamkeit
Erster Tourbericht vom 14. Oktober 2001 Vancouver - Aberdeen
Amerikas Landkarten trügen. Man schaut sie an, und denkt, fein, wir fahren dort lang,
biegen hier ein und drehen da eine Runde. Die Welt hat Ecken. Vielleicht ist es der Sprung
von der zweiten in die dritte Dimension, die das Radeln beschwerlicher macht, als es aus der
Sesselperspektive wirkt. Wir sind losgefahren und freuen uns über jeden Kilometer, der
sich hinter uns ausbreitet. Wir beißen bedächtig Stücke von unserer Amerikaroute
ab. Wie lange wir lernen müssen, ist ungewiss. Nach einer Woche sind Urteile nicht möglich.
Auch nicht nach 430 Kilometern. Bevor wir eine Meinung zeigen können, muss Zeit vergehen,
werden wir oft die Ketten schmieren. Die nächsten Monate werden einen langsamen Rhythmus
bekommen. Es ist richtig gewesen, mit der Tour in bekannter Atmosphäre zu beginnen. Hier,
im Norden des Kontinents, können wir uns auf das Radeln konzentrieren, lernen, uns zu
organisieren. Was außerdem richtig und falsch ist, werden wir noch beigebracht bekommen.
Dafür sind wir unterwegs.
Der Olympic National Park ist ein Hindernis beim Einfahren in das Land, das Gott allein gehört.
Präsident George Bush hat es uns durch den Kriegshetzerkanal CNN schon in Vancouver mitteilen
lassen: "May god continue to bless America." Er sagt es am 8. Oktober, der Tag, an
dem sich die amerikanischen Gotteskrieger aufmachen, mit ihren Raketen die Gotteskrieger in
Afghanistan von der Erde zu pusten.
Wir lassen uns vom allgemeinen Hunger nach Gerechtigkeit nicht den Aufbruch zu unserer anderthalbjährigen
Radtour vermiesen. Dem Barclay Hotel in der Vancouverischen Robson Street widmen wir keinen
Blick, als unsere Pakkas (so heißen die Fahrräder) zur Lions Gate Bridge rollen.
Dort begehen wir die erste Ordnungswidrigkeit. Straßenarbeiter haben Schilder errichtet,
die Fußgängern und Radfahrern die Benutzung der Brücke verbieten. Tapfer trampeln
wir vorbei, auch als sich die Warnzeichen mehren, bleiben wir hartnäckig. Die Zufahrt
führt durch einen Stadtpark und vor allem bergauf. Oben beginnt die Hängebrücke,
die wir uns zwei Tage zuvor von unten angeschaut hatten. "Fast wie die Golden Gate Bridge",
findet Kerstin. Gülden ist allerdings nicht, dass sie gerade zum Beginn unserer Tour die
Bürgersteige auf beiden Seiten abschweißen, um sie für die nächste Saison
gut und fein hergerichtet zu haben.
Die erste Pause, wir haben zwei Kilometer überwunden, widmen wir der Beratung, wie über
den Fluss zu gelangen sei. Weil der mindestens zehn Kilometer weite Umweg zur nächsten
Fähre uns schreckt, sind wir einhellig der Meinung, wir seien Recreation Vehicles und
berechtigt, neben Trucks und Pick Ups auf der Autospur zu fahren. Es gelingt, ohne dass ein
kanadischer Polizist uns in die Quere kommt.
Wir entfernen uns auf dem Marine Drive von Downtown Vancouver, dessen Hochhäuser über
viele Kilometer immer wieder zu sehen sind. Auf dem Weg zur Horseshoe Bay, von der wir die
Fähre zum Vancouver Island nehmen wollen, beginnen die Hügel mit uns zu spielen,
wie sie es auch später in den USA tun. Kurze und steile Anstiege wechseln mit knappen
Abfahrten, wir kommen außer Atem und nicht in einen Rhythmus. An der Ablegestelle kauft
Benedikt die Fahrkarten und wir dekorieren mit unseren Radln die Fassade eines Cafés.
Der gewünschte Effekt stellt sich ein: Kanadier, die mit weichen Hüften und T-Shirts
im Wind spazieren, bleiben stehen und werfen scheue, aber anerkennende Blicke auf uns, die
wir mit gleichgültigen Augen auf der Terrasse sitzen und die zum dritten Mal aufgefüllten
Kaffeetassen zum Mund führen. Auch die Servierdame fragt uns, wo wir hin fahren wollen,
und empfiehlt uns dann, besser eine gun mitzunehmen, denn so weit südlich sei es bestimmt
gefährlich.
Die Fähre schraubt sich in eindreiviertel Stunden über die Strait of Georgia, und
wir verlassen Nanaimo, die erste der kleinen und unbedeutenden nordamerikanischen Küstenstädte.
"Trans Canadian Highway 1", das heißt, alles geteert, viele Autos und ein komfortabler
Seitenstreifen, den wir uns mit Glasscherben und zwei toten Waschbären teilen. Kurz hinter
der kleinen, unbedeutenden und langweiligen Ortschaft Ladysmith biegen wir vom Highway ab auf
eine Straße, die schmaler ist, dafür aber mehr Hügel bietet. Hart wie Straßenhunde
stellen wir unsere Zelte im "Bald Eagle Campground"/Chemainus auf, nachdem der etwa
12jährige Platzchef uns gesagt hat, sämtliche Rasenflecken stünden zu unserer
Verfügung. Die Dusche rinnt warm, wir sind radelnde Camper auf großer Fahrt.
Die Organisation unserer 26 Taschen allerdings klappt noch nicht recht, denn es geht auf Mittag
zu, als wir anrollen, Victoria zu erreichen. Diesmal holen wir den Tagesrekord für die
erste Woche: 80 Kilometer. Wir sind fast wer, als wir an der Fährstation halten und mit
kalten Händen nach den Geldbeuteln greifen. Der Fahrplan spricht gegen uns, jenseits,
im gelobten Land, wären wir an diesem Abend erst bei Dunkelheit, und das tut selbst Radlcampern
nicht gut.
In der Yates Street steht eine Jugendherberge. Sie ist in einem backsteinernen Ziegelbau eingerichtet,
der das für kanadische Verhältnisse beinahe archäologische Alter von knapp 120
Jahren auf den Dachbalken hat. Zwanzig Dollar möchte der Rezeptionist jedem abknöpfen,
damit wir warm und weich liegen können. Kurze Besprechungsrunde, dann fragen wir, ob uns
der nationale Jugendherbergsverband als Mitglieder akzeptiert. Das würde den Preis senken,
ist aber leider unmöglich. Der Herbergspapa lässt uns auf eigene Faust einige Dollar
nach und wir schieben die Pakkas in die Vorhalle.
An diesem Tag werden wir von einer einheimischen Mountainradlerin auf eine zweite Ordnungswidrigkeit
aufmerksam gemacht. Auf der Government Street in Victoria dreht sie sich an einer roten Ampel
um und erklärt, wir hätten Helme zu tragen, das sei in dieser Stadt Pflicht. Das
ist nur ein bisschen gelogen, denn das Gesetz gilt selbstverständlich für das ganze
Land.
Zum Abendessen sieht uns Kanadas älteste China Town. Sie umfasst zwei Straßenzüge
und etwa zehn Restaurants. Wir finden eines, das sowohl Bier als auch ein Visakarten-Lesegerät
führt, und bezahlen für diesen Luxus etwas mehr als 90 Dollar. Das Camperleben ist
hart, aber dafür führt es uns an den Busen der Natur, konkurrenzlos billig ist es
außerdem. Unsere Reisekasse wird für eine mehrfache Weltumrundung ausreichen. Das
bestätigen wir uns gegenseitig und tunken unser Gewissen tief in bleiches Ale. Schmeckt
gut hier, das Bier, auch wenn die Kanadier ein gefrorenes Verhältnis zum Alkohol pflegen.
Er ist lediglich in Liquor Shops erhältlich, teuer und krankheitserregend - sagen die
Kanadier. Das macht uns die Jagd nach dem täglichen Bier nicht einfach, erleichtert aber
die Suche nach passenden Worten zum Abendgebet. "Möchte ein Liquor Shop an unseren
Weg gebaut sein ..."
Victoria ist ein unübliches kanadisches Küstenstädtchen. Proper, quirlig und
schön gebaut. Aus den Kneipen bullert gute Musik, Jazz und alter Rock. Wir haben nicht
genug Zeit, diese Spezialitäten zu würdigen, sondern Eile, am nächsten Morgen
die 10.30-Uhr-Fähre zu erwischen. Zwanzig Minuten vor dem Seegang begeben wir uns in die
Hände der US-Autoritäten in Uniform. Sie fragen nach dem Woher und dem Wohin, nach
der Reisekasse und der Heimatadresse. Dann fahren sie mit den Händen tief in die Satteltaschen
und finden nichts, was uns die Einreise unmöglich gemacht hätte. Kerstin, Benedikt
und Bernd kommen relativ glimpflich davon. Elisabeth, vielleicht suspekt als Italienerin, muss
alle Taschen aufmachen, ihre Wäsche wird kritisch inspiziert.
Wegen der angespannten Situation, in der sich die USA als Nation, als Zusammenschluss der freiesten
Menschen weltweit, befinden, wiederholen neue Zöllner in Port Angeles die Prozedur der
Terroristenabwehr. Als wir zum ersten Supermarkt fahren, um uns endgültig campingfein
zu machen, beginnt sanfter Regen, wie er von den Menschen im Staate Washington so genossen
wird, dass sie sich mit sechzig Sonnentagen pro Jahr zufrieden geben.
Müde Knochen und fortgeschrittener Nachmittag bewegen uns, nach etwas mehr als zwanzig
Kilometern das Radeln aufzugeben. Wir biegen in den Campingplatz am Indian Creek ein. Sehr
ursprünglich hier. Zwischen dem Müll sprießt sogar ein wenig Gras. Ein Mann
mit ausgewaschener Jacke läuft uns entgegen. Die graubärtige Hündin, er nennt
sie Daisy, springt um ihn herum. Nein, der Besitzer des Platzes sei er nicht, aber er lebe
schon lange hier und könne uns die besten Ecken zeigen. Unter seiner Anleitung schieben
wir die Räder um zwei Hüttenecken in die Nähe eines Bachufers. Holz wird er
uns bringen, und später am Abend würde er gern ein Bier mit uns trinken. Miroslav
ist 75 Jahre alt und nach vielen Jahren in Los Angeles am Nordende der Küste gelandet.
"Hier gefällt es mir, hier werde ich sterben", sagt Miro. Er stammt aus Serbien,
war dort Polizist, hat in den USA alles mögliche gearbeitet, zuletzt als Aufsteller von
Überwachungskameras.
Es beginnt zu regnen und der Alte verzieht sich in seine Hütte. Die bekommen wir am nächsten
Morgen zu sehen. Kerstin und Bernd bringen die Schubkarre zurück und die Angelrute, die
abends kein Glück gebracht hatte. Das Häuschen ist eine von Wänden eingefasste
Müllhalde. "Nicht hinschauen", befielt Miro. Aus irgendeinem Winkel zerrt er
eine Kilodose Kaffee, die er uns zum Abschied in die Hand drückt.
Wir fahren am Lake Crescent vorbei, dessen Wasser uns fasziniert. Man schaut drei, vier Meter
tief und sieht jeden Trieb der Pflanzen auf dem Grund. Auch hier ist es hügelig, die Bodenwellen
verebben erst im Olympic National Forest und wir kommen zu einer Häuseransammlung, der
irgendwer aus Versehen einen Namen gegeben hat. Beaver besteht aus einem Campingplatz, dessen
Chef der gleitschirmsüchtige Tim ist, und einer Kneipe. Außerdem steht ein Stromtransformator
und eine Art Hochspannungsmast am Straßenrand. Wir bauen das Zelt unter netten Zedern
auf und nachdem wir uns in der Kneipe mit Hamburgern gefüllt haben, gehen wir schlafen.
Der trommelnde Regen stört uns erst, als die Pfützen auf dem Rasen beginnen, sich
unter unsere Zeltplanen zu entleeren. Durchfeuchtet und während der Fahrt reichlich begossen,
kommen wir in Forks an. Diesmal bezeichnet der Name tatsächlich einen Ort, in dem ein
Café namens Raindrop steht. Klasse Witz.
Benedikt hat von nassen Schuhen die Nase so voll, dass er sie sehr häufig putzen muss.
Ein Geschäft gegenüber vom Raindrop verspricht "Boot and Shoe", und dort
setzt er seinem Leiden mit eleganten Gummistiefeln ein Ende. Sie wurden in China manufakturiert,
glänzen schwarz und besitzen apart in bordeaux-beige abgesetzte Spitzen und Seiten. Mehr
Eleganz ist für zehn Dollar selten erhältlich. Wenn die Sonne sich zeigt, stülpt
Benedikt die Schäfte nach außen und erhält so fast luftige Halbschuhe. Die
Wasserablagerung in diesen Muffen bändigt er täglich mit einer neuen Lage Zeitungspapier.
Er hasst seine Schuhe, traut sich aber nicht, sie wegzuwerfen. Der Regen könnte stärker
werden, und die Flüsse steigen.
Am Hoh River steht die Hoh Humm Ranch. Sie fällt uns auf, weil hinter den Gattern Lamas
äsen, und weil ein Schild "Bed and Breakfast" im Wind wackelt. Müde sind
wir, dämmerig will es werden und wieder ist ein bisschen Regen im Spiel. Die energische
Farmerin bietet Kerstin und Benedikt ein Zimmer mit Bett und zusätzlicher Matratze für
40 Dollar an. Was sie nicht sagt: Im Ofen schmurgelt ein Truthahn, zu dem wir eingeladen sind.
Trennt man die Amerikaner von ihren Hamburgerbuden, essen sie verdammt gut. Zum Fleischbatzen
reicht sie Kartoffelpüree, Erbsen und Sauce. Um den Tisch versammeln sich ein stämmiger
Mensch aus Chicago, seine beiden Freundinnen (platonisch) und Scotty samt Emely, die just von
einer 20-Meilen-Wandertour aus den Bergen zurückgekehrt sind. Von der Küchenzeile
aus sehen die alte Bäuerin und ihre Wan-Tan-Nudeln drehende Tochter unserem Appetit begeistert
zu. Der Truthahn zeigt bald die Knochen und Scotty holt aus seinem Auto eine Flasche Scotch,
die wir von Hals zu Hals wandern lassen. Wir reden ein bisschen, was man so redet, wenn man
sich nicht kennt. Darüber, dass Emely mit einem Teil ihrer College-Klasse bei den Blackfoot-Indianern
im Reservat lebt. Dort wird sie von den Indianern gefragt, warum sie so verrückt ist,
in einem Tipi zu hausen, obwohl das Wohnen in einem Haus komfortabel ist. Wir lassen uns von
Scotty erzählen, welche Flecken der USA er sich auf seiner Rundtour anschauen will. Er
war noch nicht bei den Niagarafällen und am Grand Canyon auch nicht. Charly, der Mann
aus Chikago, erwähnt, dass er mal einen Wettkampf (Trivia Contest) - Fragen zu Kleinigkeiten
von untergeordneter Bedeutung - gewonnen hat. Solche Tests scheinen Amerikaner gelegentlich
durchzuführen. Scotty hatte auch mal teilgenommen, mit schlechtem Ergebnis.
Die Ranch beeindruckt uns mit zahlreichen Vitrinen, in denen die Bauersleute Fundstücke
aus der Gegend, Kunsthandwerk der Indianer und allerlei Kleinigkeiten aufbewahren. Kitsch und
Kunst in so enger Nähe, dazu eine Veranda, auf der die Hühnerscheiße fingerdick
klebt. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Frauen uns befehlen, die nassen Räder
durch das Wohnzimmer zu schieben, das Frühstück mit tiefgelbem Rührei, Maisbrot,
Bratkartoffeln und Schweinewürstchen - das alles hat eine eigene Chaosklasse.
Die Landschaft wird eintöniger. Wir mühen uns aus dem Staatswald und kommen in die
Zone der privaten Forstwirtschaft. Schilder vor jungen Bäumen. Erster Kahlschlag 1927;
Aufgeforstet 1996; Nächste Ernte 2034. Es regnet. Die Wolken hängen über der
Straße und warten auf uns. Wir kommen und sie öffnen sich. Kerstin ruft: "Da,
was ist das?" Ein junger Schwarzbär läuft auf dem Mittelstreifen des Highways
entlang, er ist etwa 150 Meter von uns entfernt. Auf der Gegenseite nähert sich ein Auto.
Der Bär tänzelt um die eigene Achse und trabt in den Wald. Der Fotoapparat liegt
regensicher im Rucksack, das Tier wäre ohnehin zu weit entfernt gewesen.
Am Lake Quinault beziehen wir ein Motelzimmer. Nasse Bindfäden platschen vom Himmel. Wir
freuen uns auf einen Hamburger in der Braterei nebenan. Nach dem Essen kommt der Chef und fragt
uns, wieso wir Amerika hassen, obwohl es doch das freieste Land der Welt ist. Wir müssen
ihm unsere Religionszugehörigkeit nennen und erklären, dass Afghanistan einige Kilometer
von Mitteleuropa entfernt liegt. Sein Rezept gegen die Taliban: "Put the common people
out of the country and after that nuke the rest down." Er würde sofort mitmachen,
wenn er nicht zu alt wäre, sagt er, und dann bedankt er sich herzlich dafür, dass
wir sein Lokal besucht haben.
Am nächsten Tag fällt das Radeln viel leichter als zuvor. Das liegt an den zusätzlichen
Bar, die wir auf Benedikts Vorschlag in die Reifen pumpen und daran, dass die Straße
aus den Bergen herausführt. Wir erreichen Aberdeen, hatten uns nach dieser Stadt am Pazifik
gesehnt, erwarteten eine Stadt und fanden eine paar Straßen mit Häusern dran. Öd,
öder, Aberdeen. Wir finden ein Motel und entdecken, dass sogar hier Träume wachsen.
Ein junges Thai-Paar, in dessen Restaurant wir scharfe Dinge essen, erzählt von den Risiken
der Selbständigkeit und den Steuern, die das freie Unternehmertum behindern. Der Staat
erhält vom Einkommen der beiden fast acht Prozent.
Außerdem gibt es in Aberdeen einen Supermarkt, der 24 Stunden täglich geöffnet
hält, und eine Dame in der Touristeninformation, die in ihrem Leben zuvor noch keine Radler
gesehen hat und auch von Aberdeen nicht allzu viel weiß. Wir verlassen den Ort ohne Reue.