10. Reisebericht vom 10. Januar 2002 Guerrero Negro - La Paz
Baden in der Bucht der Empfaengnis
Zu Weihnachten goennen sich die Mexikaner einen Feiertag. Trotzdem sind am 25. Dezember
fast die Haelfte der Laeden in Guerrero Negro geoeffnet. Im Supermarkt, wo die Angestellten
sieben tage in der Woche ueber halbleere Regale wachen, gibts auch an Kirchenfesten keine Ausnahme
vom Geldverdienen. Wir allerdings verschlafen den Morgen und lassen uns erst am fruehen Nachmittag
vom Kaffee aus der Aluminiumkanne zur Besinnung bringen.
Guerrero Negro ist ein Ziel fuer Grauwalbetrachter. In den Wintermonaten schwimmen die Wale
aus der arktischen Heimat, immer suedwaerts an der Pazifikkueste Amerikas entlang, in die Bucht
vor der Stadt, um Junge zu gebaeren. Die Walbabies wiegen in der ersten Stunde ihres Lebens
500 Kilogramm. Das ist viel zu wenig Speck, um das Eiswasser der Beringsee zu ueberleben. Innerhalb
einer Woche, so erzaehlt uns Hotelwolfi, verdoppeln sie dank der Milch der Muetter das Gewicht.
Die Touristen lassen sich mit Booten auf die Laguna Ojo de Liebre fahren, um ungebetene Gaeste
im Kreisssaal der Wale zu sein.
Als begeisterte Attraktionsveraechter verzichten wir auf den 40-Dollar-Ausflug zum Walestreicheln.
Wir folgen statt dessen dem Vorschlag von Padre Primo und besichtigen in der Salina die groessten
Salzbecken der Welt.
Simon, der Kanadier, hatte erzaehlt, ein Mann des Sicherheitsdienstes habe gesagt, die Fuehrung
beginne an jedem Werktag um 8 Uhr in der Frueh. Wir werden gegen 7.50 Uhr wach, ueberlegen
kurz, ob wir uns die Hast antun sollen und rennen dann die Strasse entlang zum Eingangstor
der Exportadora Sal. Der Wachmann scheucht uns mit einem Handwedeln ins Foyer. Hinter der Rezeption
steht ein leerer Stuhl, wartende Besucher fehlen. Wir lassen uns in die Polster der Sesselgruppe
fallen und lutschen muede am Zahnpastageschmack in unseren Muendern. Gegen neun stoeckelt eine
Sekretaerin herbei. Sie hat Bedenken, ob unser Wunsch erfuellbar ist. Die Erklaerung Bernds,
er sei Journalist und werde ueber das Unternehmen schreiben, macht sie geschaeftig. Die Dame
zieht Formulare aus Schubladen, fotokopiert den Reisepass und greift zum Telefon. "Sie
haben Glueck, ich habe einen Fuehrer gefunden", sagt sie.
Ruben analysiert gewoehnlich Salzproben im Labor. An diesem Tag ist er unser Kutscher. Die
Becken, in denen das Salzwasser verdampft, erstrecken sich ueber 30.000 Hektar. Die Laguna
ist gewissermassen die erste Station des Salzabbaus, denn wegen ihrer geringen Tiefe heizt
die Sonne das Wasser staerker. Der Salzgehalt betraegt 4,5 statt der meeresueblichen 3,3 Prozent.
Ueber Kanaele leiten die Arbeiter das Wasser auf die Felder und in mehreren Monaten kristallisiert
das Salz in einer erntefaehigen Schicht. Ruben erklaert, dass vor allem das Klima, zwei Regentage
im Jahr und kontinuierlicher Wind, den Doerrprozess antreiben. Regnet es doch einmal, dauert
es zwei Wochen, bis die unerwuenschte Verduennung getrocknet ist.
Der Chemiker faehrt uns zur Salzwaschanlage, wo die Lastzuege, hoch wie dreistoeckige Haeuser,
die Ladung ueber einem Gitter ablassen. Die Kristalle werden von Spindeln durch ein Wasserbad
gezogen, fallen dann auf ein aus Stahldraht geflochtenes Foerderband und tropfen ab. Ein anderes
Foerderband bringt den weissen Kristallstrom zu Barken, die ihn zu einer vorgelagerte Insel
ziehen, wo er auf Frachter Richtung Japan und USA umgeladen wird. Nur der kleinste Teil der
Millionen Tonnen Jahresernte ist fuer den Verzehr bestimmt. Das meiste wird als Streusalz auf
Highways und Flughafenrollbahnen eingesetzt.
Das Stahlgeruest der Waschanlage schuppt sich rostig und auch der Fuhrpark haelt der Allgegenwart
des Salzes nicht lange stand. Das ist teuer, klagt Ruben. Die Kosten treffen keine Armen. Offiziell
gehoeren 49 Prozent der Saline dem Konzern Mitsubishi. Inoffiziell, so hatte uns Padre Primo
verraten, halten die Japaner 70 Prozent. Die Potenz der Besitzer kommt auch den Priestern zu
Gute. In Guerrero Negro haben die Buddhisten den Christen eine Kirche gebaut, es ist die, in
der wir die Christmette erlebten.
Die Kanadier bereiten ihre Abfahrt vor. Sie kochen am fruehen Nachmittag Kartoffelauflauf und
sind gegen vier Uhr pronto zum Start. Wir setzen uns in den Motelhof, um die Raeder zu reinigen.
Kerstin entdeckt eine gebrochene Speiche an Bernds Hinterrad und waehrend der Reparatur reissen
zwei weitere, der erste groessere Schaden an unseren braven Pakkas.
Am Abend rollt Leopoldo Lopez vor. Der 26-Jaehrige ist der erste mexikanische Langstreckenradler,
den wir treffen. Leopardo, das ist unser Spitzname fuer ihn, traegt Helm und windschluepfrigen
Raddress. Spaeter erzaehlt er, dass er in Mexiko Stadt vier- bis fuenfmal in der Woche durch
den Smog hechelt und frueher Triathlon-Wetbewerbe mitgemacht hat. Es wundert uns nicht, dass
er trotz Gepaeck und Wasservorrat 140 Tageskilometer durch die Wueste gefahren ist. Er fruehstueckt
ledglich ein paar Getreideriegel und laesst seinen Koerper vom Fett zehren. Wie das funtioniert
bleibt raetselhaft, keine Stelle an ihm ist schwammig. Auch uns will er zu seinem Trainingsprogramm
bekehren: In der ersten Woche taeglich 70 Kilometer, dann ansteigen auf 100 Kilometer und danach
eine Woche Pause bei wieder 70 Tageskilometern. Wir sehen ein, dass das sinvoll sein koennte
und bleiben trotzdem dabei, unsere Distanzen nach den Orten zu richten, die wir anschauen wollen,
nach unserer Laune und dem Mut unserer Beine.
Wir verlassen Guerrero Negro, unsere Weihnachtsinsel, auf gerader Strasse. Etwas spaeter sehen
wir die Kanadier am Seitenstreifen stehen. Sie waren am Vortag nach 15 kilometern mit der Daemmerung
kollidiert.
Zwischen die Kakteen mogeln sich Yukka-Palmen, vor uns begleitet eine schwungvolle Bergkette
unsere Blicke. Die Ranchos sind Pflanzenoasen im sandigen Boden. In Vizcaino bietet die Besitzerin
des Hotels ihren Hof als kostenlosen Campingplatz an. Dass er auch als Busbahnhof dient, stoert
uns wenig. Nur Kerstin hat ein Problem. Nach einigen Schlafminuten wacht sie auf und sagt:
"Wer sich nicht duscht, klebt."
Ein Rottweiler namens Escubi beobachtet den Zeltabbau am Morgen. Mit seinem weissfelligen Kameraden
bellt er uns Kaffeetrinker gelegentlich an. Wir winken einem bepackten Radler, der zur Rezeption
geht, seinen Schluessel abzugeben. Dann schiebt er auf uns zu und nestelt an einer Konstruktion
aus Abwasserrohren, die er auf die Lenkstange montiert hat. Als er vor uns steht, erkennen
wir eine Videokamera, deren auge auf uns gerichtet ist. Er faehrt taeglich 100 Meilen (160
Kilometer), sagt er und verabschiedet sich.
Am Abend erzaehlt uns Leopoldo in San Ignacio, er hat unsere Zweitagestour von 135 Kilometern
locker an einem Tag aufgespult, der wahnsinnige US-Amerikaner sei in sechs Tagen von Tijuana
nach Guerrero Negro (knapp 800 Kilometer) gefahren, ohne zu schlafen.
Die letzten zehn Kilometer vor San Ignacio zeigen uns, was der kommende Tag bringen wird. Colinas
nennen Mexikaner die Huegel, die uns den Schweiss aus der Haut pressen. San Ignacio ruht auf
einem unterirdischen Fluss, der an einer Stelle des Tales als See an die Oberflaeche tritt.
Drumherum steht ein Wald aus Dattelpalmen. Wir sind uns einig, der Ort waere die richtige Kulisse
fuer Weihnachten gewesen. Seine Haeuser sind um den ersten Zócalo (Hauptplatz) gruppiert,
den wir auf der Baja finden. Seine Nordseite ist von der Missionskirche beherrscht, die der
deutsche Jesuit Eusebio Kuehn in der ersten Haelfte des 18. Jahrhunderts von Indianern bauen
liess.
Unter den Baeumen des Platzes braet ein ambulanter Haendler Hotdogs, auf den Parkbaenken hocken
Jugendliche und ein paar fusslahme Touristen. Alte Herren halten ihre Sombreros in die Sonne.
Die Huete haben nichts mit den uebergrossen Schlappen gemeinsam, die gern an Straenden an Fremde
verkauft werden, sondern sind feine, meist aus Stroh geflochtene Cowboyhuete. Wir stehen im
Schatten und geniessen den Blick auf die flachen Haeuser und die traege Ruhe, als ein Radlerpulk
ueber das Kieselpflaster hoppelt: Leopardo hat die Kanadier unterwegs aufgegabelt.
Sie stellen ihre Zelte neben die unseren auf den einzigen Campingplatz, der hier warme Duschen
anbietet.
Es wird dunkel unter den Palmen, wir kochen, schieben zwei Tische zu einer gemeinsamen Tafel
zusammen, naschen vom Essen der jeweils anderen, stossen mit Bier an. Leopardo spricht ueber
die mexikanische Sicht auf das panamerikanische Wirtschaftsabkommen, Politikstammtisch im Radlercamp.
Feurig fliegen englische, spanische, deutsche und franzoesische Saetze zwischen uns hin und
her, die anderen Camper stoeren nicht.
Bevor wir zur Huegeletappe starten, besuchen wir das Museum von San Ignacio. Dort sind Kopien
der 4000-jaehrigen Hoehlenmalereien zu sehen, die etwa 50 Kilometer entfernt gefunden wurden
und zum Weltkulturerbe der UNESCO gehoeren. Man fuehrt Touristen in die Berge, allerdings nur
in die am naechsten gelegene Hoehle. Um die anderen zu sehen, darf man sich nicht vor einem
fuenftaegigen Ritt auf dem Muli scheuen. Ausserdem benoetigen Besucher eine Genehmigung vom
entsprechenden Ministerium.
Uns genuegt das Museum. Zwar lesen wir die spanischen Erlaeuterungen nicht wirklich gruendlich,
sehen uns jedoch die Hoehlennachbildung im hinteren Teil des Raumes genau an. Diese ersten
murales (eine mexikanische Form der Wandmalerei) sehen fuer Laien genauso aus wie jene, die
in Frankreich entdeckt wurden. Die Indianer pinselten fette Beutetiere, Frauen mit ausladendem
Oberkoerper und Maenner. Weil wir uns gern als die Adressaten fuehlen, denken wir darueber
nach, was sie uns damit sagen wollten.
Dann gehen wir auf den sandigen Weg. Der Vulkan Tres Virgines rueckt naeher, seine harsche
Felskuppe begleitet uns ueber mehr als 40 Kilometer. Die Strasse klettert und faellt dann abrupt
als ausgesetztes Asphaltband in eine gruen scheinende Ebene. "Como un jardin" - "Wie
ein Garten", findet Leopardo, der uns hier einholt. Wir haben halt gemacht und sind wieder
einmal ein paar Meter in die Wueste gelaufen. Auf dem braunen Lehm finden wir gelbe, lilafarbene
und weisse Bluemen, ihre Blueten sind pupillenklein. Wir sehen Kakteen und Baeume, deren Staemme
ineinandergewachsen stehen, sie umarmen sich.
Leopardo begleitet uns bis Santa Rosalia. Das Staedtchen liegt auf der Bahia-Seite der Halbinsel
und bevor wir auf Meereshoehe hinunterfahren, muessen wir noch einmal steigen. Ploetzlich sind
wir von gelben Sandsteinbergen umgeben, sie leuchten im Licht der untergehenden Sonne.
Santa Rosalia schreckt Besucher mit verrottenden Industrieanlagen. Hinter dem Guertel aus rostigen
Stahltraegern und broeseligen Backsteinen finden wir ein lebendiges Staedtchen. Wir ueberreden
eine Hotel-Chefin, uns Fuenfen ein Doppelzimmer anzuvertrauen und schlafen wunderbar. Leopardo
will am Morgen eigentlich zuegig weiterfahren und sitzt dann doch fast bis zum Mittag mit uns
auf der Verdanda beim Fruehstueck. Wir haben es nicht eilig, weil wir uns nur 60 Kilometer
bis Mulegé vorgenommen haben. Also spazieren wir durch die Stadt und sehen uns die von
Gustave Eifel konstruierte Stahlkirche an. Sie stand waehrend der Pariser Weltausstellung neben
dem Eiffelturm und wurde in Einzelteilen nach Mexiko verschippert.
Wir hatten angenommen, die Kuestenetappe wuerde flach hingehen und nehmen die Huegel ohne Humor.
Mulegé stimmt uns mit Dattelpalmen freundlich. Der Campingplatz, etwa einen Kilometer
ausserhalb und an einem Fluss gelegen, schafft es, dass wir uns bei dem Gedanken, hier Silvester
zu verbringen, gut fuehlen. Wer weiss, was uns in den Knochen steckt, am letzten Abend des
Jahres treibt es uns vor 12 Uhr in die Schlafsaecke, wir rufen uns durch die Zeltwaende Neujahrsgruesse
zu.
Am 2. Januar wollen wir endlich Sand und Meer spueren. Die Strasse folgt der Steilkueste an
der Bahia de la Concepción, hoch und runter, wie die Felsen es wollen. Die Playa Santispac
freut uns sehr. Nahe bei den Felsen liegt der helle Sand dicht unter der Wasseroberflaeche
und gibt die helltuerkise Farbe, die so urlaubsmaessig mit dem restlichen Wassergruen harmoniert.
Allerdings treibt uns die Reihe der US-amerikanischen RV-Vehikel ein paar Kilometer weiter,
bis wir an der Playa "El Burro" eine wackelige Palmhuette finden, die nicht belegt
ist. Wasser und Lebensmittel haben wir getankt, hier werden wir einen Badetag einlegen. Benedikt
zieht sich am schnellsten aus. Nach drei Monaten in staendiger Naehe zum Pazifik britzelt der
erste Vollkontakt mit dem Wasser auf der Haut. Sogar Elisabeth, das Bergkind, laesst sich treiben.
Nachts liegen wir auf dem Ruecken und entdecken Sternhaufen, bis der Mond, fast voll noch,
hinter den Bergen hervorkommt. Wir sind ganz dicht am Frieden. Kurz vor sechs Uhr krabbeln
wir aus dem Zelt und stehen mit offenen Augen vor dem Sonnenaufgang, der seine Regenbogenfarben
ueber den ganzen Himmel versprueht.
Nach diesem Urlaubstag ziehen wir kraeftig an und erreichen nach zwei Etappen mit jeweils mehr
als 100 Kilometern Ciudad Constitución. Am Stadteingang schreit Benedikt begeistert
"Stopp", als er sieht, dass der Campingplatz unter oesterreichischer Fuehrung steht.
Manfred und Ida, ein steirisches Paar aus Graz, haben vor neun Jahren ein Stueck Brachland
gekauft und mit mehr als 1.000 Baumsetzlingen und kraeftiger Bewaesserung einen schattigen
Ruheplatz gebaut. Zuerst geben sich die ueber 50-jaehrigen reserviert. Sie sehen oefter als
wir deutschsprachige Touristen und manche von ihnen haben sich wohl saumaessig aufgefuehrt.
Nach einer Stunde Plauderei ist die Zurueckhaltung ueberwunden. Ida,im vorigen Leben Handarbeitslehrerin,
verraet Kerstin ihre Marmeladenrezepte, Manfred spricht ueber Gott und die oesterreichische
Welt. Beide schimpfen ueber mexikanische Buerokraten, die sie hindern wollen, ihren Adoptivsohn
zu adoptieren. Manfred faehrt uns in seinem ledergepolsterten Lincoln zum Abendessen und am
naechsten Morgen zeigt uns das Paar den Geheimgriff eines serbokroatischen Chiropraktikers,
mit dem wir ab jetzt unsere Rueckenschmerzen kurieren koennen. Idas Bittermandarinenmarmelade
in der Tasche fahren wir davon. Wieder liegt ein Stueck Strasse vor uns, das mit dem Lineal
durchs Flachland gezogen wurde. Der Kick auf der Landkarte bedeutet Huegel. Wir schlafen in
der Wueste, zum letzten Mal auf der Baja. Tagsueber zeigt uns die Sonne, dass wir wirklich
im Sueden angekommen sind. Sie brennt und funkelt, Schatten ist rar. Drei Tage nach Ciudad
Constitución rollen wir nach La Paz ein. Die Baja California und knapp 1.500 Kilometer
auf der mex 1 liegen hinter uns.
Von hier wird uns die Faehre nach Mazatlán aufs Festland bringen. Dort wollen wir im
Autobus etwa 1.000 Kilometer nach Lazaro Cardenas fahren. Das war nicht geplant, aber die Zeit
draengt, denn am 27. Januar haben sich unsere Muenchner Freunde Manuela, Andreas, Max, Daniela
und Ottmar zu einem dreiwoechigen Besuch angesagt. Wir hatten schon zu Hause versprochen, eine
passende Unterkunft zu suchen.