Urlaub vom Radfahren

            


11. Tourbericht vom 24. Februar 2002: Pichilingue (La Paz) - Troncones


Der Abschied von der Baja California hinterlässt ein seltsam unbefriedigtes Gefühl. Wir verlassen die Halbinsel und bleiben doch im Lande. Wir beenden einen Monat Radfahren durch steinharte, herzerfüllende Landschaft und wissen, dies war nur die Nasenspitze Mexikos.
Mit dem Betreten der Fähre machen wir einen Schnitt in unsere Radreise und lösen einen Monat heraus. In diesen Wochen schauen wir die Fahrräder kaum an.

            
Die Puerto Vallarta legt am 10. Januar um 15 Uhr in Pichilingue ab. 400 Kilometer und 18 Stunden später schieben wir die Räder in Mazatlan aufs Festland. Unsere Freunde aus München haben einen Flug gebucht, der am Abend des 27. Januars in Mexiko-Stadt landen wird. Bis dahin wollen wir eine angenehme Urlaubsherberge nahe Zihuatanejo gemietet haben. Um uns Stress zu ersparen, überbrücken wir 1.000 Kilometer Richtung Süden mit dem Autobus. Auch das wird eine Erfahrung, auf die wir nicht verzichten würden. Wir finden Troncones, einen Ort, der in unseren Karten (wir haben fünf verschiedene Werke dabei) fehlt.
Um zu beschreiben, was in diesem Monat geschieht, in dem die Räder zwar still stehen, wir aber täglich tiefer in Mexiko eindringen, eignen sich einzelne Episoden besser als ein fortlaufendes Tagebuch.

Zwischen den Mexikos

Der Fährhafen von La Paz hat mit La Paz nichts zu tun. Die Transportgesellschaft lässt die Schiffe 18 Kilometer nördlich in Pichilingue ablegen. Hier schneidet eine Bucht einen Widerhaken in die Spitze der Baja California. An der Innenseite liegt La Paz mit verdrehter Geografie. Wer von Norden kommt, erreicht die Stadt an ihrem südlichen Ende.
18 Kilometer, denken wir, das ist für uns eine Spazierfahrt, ein harmloses Ausrollen nach den Wüsten und Bergketten. Wir packen gegen Mittag auf dem Trailerpark "El Cardon" unsere Zelte und Schlafsäcke zusammen.
Kerstin und Bernd fahren voraus, sie wollen fünf leere Flaschen "Corona Familiar" zurückgeben. Jede der Literflaschen ist fünf Pesos wert, das macht zweieinhalb Dollar, dafür lohnt ein Stopp.
Wir hatten dem Mann in der Bierniederlage nicht geglaubt, als er am Vortag sagte, der Pfandgutschein gelte nur bis zum Abend. Wir gingen von dem Irrglauben aus, eine Flasche sei eine Flasche, gestern, heute und morgen. Doch der Händler stellt sich stur. Er bestreitet nicht, uns die Flaschen verkauft und das Pfand berechnet zu haben. Nur sei die Pfandzeit leider abgelaufen.
Auf die Frage, wie wir bitteschön zwischen dem Kauf um 21 Uhr und dem Ladenschluss um 22 Uhr fünf Liter Bier hätten trinken sollen, antwortet er mit entschlossenem Schulterzucken. Wir stehen wieder einmal vor dem Rätsel des mexikanischen Pfandsystems. In den meisten Geschäften brauchen wir Ûeberredungskraft, um die Zweifel an der Echtheit der Pfandquittung zu verscheuchen, selbst wenn die Unterschrift vom Zweifelnden selbst stammt. Ohne Quittung geht gar nichts. Diese Einsicht kostete uns etliche Pesos.
Auf den Trick mit dem Verfallsdatum waren wir nicht vorbereitet. Bernd nimmt die Pullen und zerschlägt sie in der Mülltonne neben der Ladentür. Von der anderen Strassenseite beobachten wir, wie sofort ein "Corona"-Mitarbeiter im Abfall nach vielleicht heil gebliebenen Flaschen sucht. Wir lachen böse und fahren auf dem Malecon aus der Stadt hinaus.
Das vermaledeite Stummelchen Küstenstrasse zeigt uns, dass Spazierfahrten nicht in Kilometern gemessen werden. Die Kurven der Fahrbahn sind in die Flanken der Baja-Berge gefräst. Neben zwei Lastwagen, die aneinander vorbei fahren, bleibt kein Platz für Radlerschultern. Einmal muss Kerstin in den Strassengraben lenken, um ihren Kopf vor dem Rückspiegel eines Lkw in Sicherheit zu bringen. Dem Fahrer hätte der Zusammenstoss nicht mal einen Knick in den Panzer gemacht, er hupt im Vorbeifahren.
Die Arbeiter haben die Strasse in die Hügel gesprengt, Tunnel ohne Decke. In diesen Passagen steht die Felswand zwei Handbreit neben dem Begrenzungsstreifen, wie eine Burgmauer. Wir treten voran und sind dankbar, dass die Trucks nicht auf Gegenverkehr treffen, sie hätten uns in rote Streifen an der Wand verwandelt. Zum ersten Mal fühlen wir die Agression von viel zu vielen PS unter der Kopfhaut prickeln. Der Parkplatz vor der Mole befreit uns, wir dürfen aus der Reichweite der Kotflügel fliehen. Erleichterung schaffen auch die Hotdogs, die ein Mann an der Hafenabsperrung verkauft. Wir legen Jalapeños zwischen die Brothälften, sie treiben uns Wasser in die Augen.
Um Fahrräder an Bord einer Mexiko-Mexiko-Fähre zu bringen. Darf man sich nicht an die Anweisungen des Personals halten. Der Ticketverkäufer weist uns um eine Ecke und dann die Treppe hinauf. Schnaubend und mit gepeinigter Wirbelsäule wuchten wir das erste 70-Kilo-Rad in die Meute Wartender. Vorsicht, viele Menschen an einem Ort bedeuten erhöhte Diebstahlgefahr. Wir teilen unsere Aufmerksamkeit zwischen oben und unten.
Eine Putzfrau stemmt sich auf den Stiel ihres Besens: "Nein, nein, nicht dort oben hinauf, hier unten durch die Unterfuehrung und hinten um das Gebäude!" Wir schleppen das Rad ins Erdgeschoss zurück, biegen am anderen Ende nach rechts ab, und stehen vor einem Gitter und einer Mauer.
Kommt ein Gepäckträger, berufen, Verwirrten auf den Weg zu helfen. Er deutet in die entgegengesetzte Richtung und wir sehen, wir hätten sofort die Auffahrt der Autos nehmen, die Räder im Bauch des Schiffes anbinden und dann ein Teil der Fussgängerschlange werden sollen.
Dies wird die dritte Fährenfahrt auf unserer Reise. Mit der Eleganz geübter Schiffspassagiere schlagen wir Haken um die Mitreisenden, die sich im Salon mühen, die Nummer ihres muffigen Pullman-Sessels zu finden. Wir eilen auf dem Seitendeck nach vorn und finden unter den rostenden Lettern "PUERTO VALLARTA", schräg hinter der Brücke, den schönsten Platz für die Überfahrt.
Der Motor teilt seine Kraft durch ein kitzelndes Vibrieren mit. Wir sehen das Türkis der Bahia de La Paz unter uns auslaufen. Das Meer wechselt zu einem Stahlblau und in ein grünes Schwarz, die Berge verschieben sich vor unseren Blicken.

            
Kerstin lehnt an der Reling und lässt sich von einer Zufallsbekanntschaft in die Geheimnisse der Reisekunst einweisen. Der Mann stammt nicht nur aus der IT-Branche, sondern auch aus San Francisco. Er hat viel gesehen und möchte noch mehr kennenlernen. Derzeit ist er mit seinem Auto, das er liebevoll "Truck" nennt, unterwegs nach Mittelamerika. Später geht er in seine Kabine. Nur wenige Pasagiere besuchen uns in unserem Freiluftschlafzimmer, in dem die Sterne aufgehen. Der Wind bläst das Schiff voran und mit ihm legt sich ein Hauch Salzwasser über unsere Schlafsäcke. Die Sonne tupft ihn am Morgen auf und wir sehen, dass die von Häusern umzingelten Waldhügel Mazatlans näher kommen.

Pedro macht Mathematik

Der Bus erreicht Puerto Vallarta um halb drei und wir wissen nichts rechtes mit der halben Nacht anzufangen. Die Station liegt ausserhalb der Stadt. Der Fahrer schliesst den Bus ab und sagt, er werde in einem nahen Hotel schlafen. Das könnten wir nicht verfehlen, die Strasse hinunter und auf der linken Seite. Wir finden das Hotel nicht. Sehen aber ein Strassenschild, 2,5 Kilometer nach Puerto Vallarta.
Gelbes Licht der Strassenlaternen fällt auf die Fahrbahn. Keine Lampe ist kaputt, das dürfte auch nicht sein, denn die nächsten Schilder verkünden: "Here are you safe." "This place is paradise." An den Hausfassaden sehen wir, wie das sichere Paradies für nordamerikanische Touristen eingerichtet wurde. Gestapelte Hotelbalkone, 15 oder 20 Etagen hoch, dazwischen Betonquader: Supermarket, Nightclub, Drugstore, Savings Bank. In Hospitals können sich die Wohlständler fern vom eigenen teuren Gesundheitssystem den Blutzucker bändigen, Hüften einsetzen, Zähne überkronen und Silikon implantieren lassen. Die Zona Hoteleria ist ein Ghetto, an dessen Toren Mexikaner darüber wachen, dass Mexiko nicht reinkommt. Auch wir fühlen uns nicht willkommen.
Jenseits des Flusses erreichen wir die Altstadt. Die Reifen hopsen über das Kieselpflaster. Am Hotel "Posada Castillo" brennt eine Glühbirne. Benedikt klopft an das Eisengitter und nach wenigen Augenblicken knipst jemand drinnen die Beleuchtung an.
Ein weisser Sombrero erscheint und drunter steckt das knittrige Gesicht eines Männchens. Es heisst Pedro. Das wissen wir noch nicht und wir haben auch keine Ahnung, was es bedeuten wird.
Pedro freut sich über uns. "Kommt herein, kommt herein!" Pedro lächelt, bis Benedikt fragt, wieviel wohl eine Nacht in diesem Hotel kosten würde. Über Pedros Kopf, weit jenseits seiner Reichweite, hängt die schwarze Tafel, auf der alle Zimmerpreise aufgelistet sind. Pedro liest nicht, Pedro überlegt. "Vier Personen, eine Nacht ..." Pedro rechnet. "Das macht 560 Pesos." So steht es auf der Tafel, die über Pedros Kopf hängt.
"Das ist viel Geld, gibt es keine billigere Möglichkeit?", fragt Benedikt. Hmm. Pedro denkt nach. Billig, ja billig. Billig versteht Pedro, er mag es ebenfalls, wenn Dinge billig sind. Pedro lächelt, ein bisschen schüchtern, ein bisschen hoffnungsfroh, weil er fühlt, dass ein Einverständnis mit den späten Gästen hergestellt ist. "Eine Nacht, vier Personen, das kann auch 280 Pesos machen", sagt Pedro. "Wunderbar", sagt Benedikt. "Eine Nacht, 280 Pesos, das sind für zwei Nächte 560 Pesos, das ist sehr gut."
Pedro versteht nicht und wackelt mit dem Kopf. "Also gut, lassen wir es bei einer Nacht, vier Personen, also 280 Pesos." Benedikt wird ungeduldig. Mit dünnen Fingern kramt Pedro einen Rechnungsblock aus der Schublade hinter der Theke. Er findet einen Kugelschreiber und zittert brav die Zahlen aufs Papier. Grosse, mit Mühe gemalte Zahlen und Buchstaben, Pedro ist mindestens 70 Jahre alt.
Benedikt reicht die Scheine über den Tresen, erhält die Quittung. "Stimmt es wirklich, 280 Pesos, eine Nacht, vier Personen?" Der Portier nickt.
Pedro verschwindet hinter einer Tür und kommt zurück, in den Händen hält er vier Handtücher und vier Stückchen rosafarbener Seife. Pedro hat an alles gedacht.
Unser Zimmer liegt im dritten Stockwerk. Wir lösen die Gepäckrollen von den Satteltaschen, die Satteltaschen von den Gepäckträgern und die Lenkertaschen von den Lenkern. Es ist warm in Puerto Vallarta und stickig im Hotel. Wir schwitzen, nachdem wir die Taschen über die Stiegen hinauf geschleppt haben. Gottseidank nur noch die Fahrräder, denken wir, und bemühen uns, leise zu sein, wegen der Uhrzeit und der anderen Hotelgäste.
Wir achten nicht auf Pedro, der hinter seinem Tresen steht und zwei Zahlen untereinander geschrieben hat, um sie zu addieren.
Gottseidank nur noch ein Fahrrad. Die Treppen sind wirklich sehr eng in diesem Haus. Pedro nähert sich mit leisen Schritten. Tippt Benedikt auf die Schulter. "Leider, ich hab mich verrechnet, es kostet mehr, eine Nacht, vier Personen, das sind 560 Pesos." Pedro lächelt ängstlich.
Kerstin stemmt die Fäuste in die Taille, erhebt die Stimme, pocht auf die geschriebene Rechnung. Pedro möchte gern unter seinem Sombrero verschwinden, bleibt aber hart wie ein kleiner, rechenunkundiger Stein.
Wir dürfen Pedro nicht hauen. Leider. Also schleppen wir wieder, laden wieder auf. In der Strasse lachen wir. Es ist zu spät zum Schlafen, demnächst wird es dämmern.

Busfahren fuer Anfaenger und Fortgeschrittene

Mexico bewegt sich in Bussen. In der Stadt, ueber Land, ins Ausland, wer wohin will, besteigt einen Bus. Die Stadtrouten sind von Micros abgedeckt, laengere Strecken teilen sich Busse der ersten und zweiten Klasse. Die Art der Klimaanlage unterscheidet die Buskategorien. Haengen die Passagiere halb zu den Fenstern heraus, um wenigstens einen kuehlen Kopf zu behalten, steht man vor einem Bus der zweiten Klasse. Hier sind als Passagiere auch Huehner, Schweine und Ziegen wohl gelitten. Ambulante Haendler duerfen ihre Verkaufsstaende in den Mittelgang zwaengen. Schadhafte Getriebe und bockende Federn verursachen oft Seekrankheit. Wer die Revolution im Magen nicht beherrschen kann, erleichtert sich zwischen die Sitze. Die einzige Regel lautet: Hervorbringungen muessen mit Zeitungspapier abgedeckt werden. Den Rest erledigt die Hitze.
In der ersten Klasse weht ein anderer Wind. Er stroemt eiskalt aus der Klimaanlage. Die Busfahrer tragen weisse, fleckenlose Hemden und maltraetieren ihre Passagiere mit einem Videorekorder. Diese Busfahrer sind Goetter. Sie entscheiden ueber Pausen und Geschwindigkeit. Niemand treibt sie, keiner kann sie aufhalten.
Wir wollen aus Mazatlan fort, Richtung Sueden, moeglichst schnell 1.000 Kilometer hinter uns bringen. Wir fallen in die Haende der Goetter. Die Geschichte hat zwei Teile.
Der erste beginnt am Busbahnhof in Mazatlan. Wir radeln aus dem Faehrhafen, durch die Stadt, am Strandboulevard entlang und weit hinten nach links, vor das Tor der zentralen Busstation. Dort steht ein Uniformierter. Er besitzt nicht nur Schlagstock und Pistole, sondern auch eine Aufgabe. Er soll das Gelaende vor zwielichtigen Gestalten bewahren. Vier verschwitzte Radler sind ihm suspekt. Vielleicht weil wir nach ernsthaftem Interesse an Fahrkarten aussehen, unterzieht er uns nur einer kurzen Fragerunde: Wohin, woher, wozu? "Geradeaus und dann links bitte."
Wir teilen uns, wollen die Preise von erster und zweiter Klasse erfragen, um danach zu entscheiden.
Bernd geht zur ersten Klasse und hoert, die Fahrt nach Puerto Vallarta koste 364 Pesos. "Nein, Fahrraeder sind gar kein Problem, sie kosten auch nichts extra", sagt die Frau der Gesellschaft "Estrella blanca" (Weisser Stern). Leider sei der heutige Bus ausgebucht, aber prinzipiell, ganz allgemein eben, sei alles moeglich. Wir sind schliesslich in Mexiko.
Benedikt kommt aus dem Saal der zweiten Klasse: "Prima, eine Fahrt kostet 364 Pesos, Fahrraeder sind kein Problem, aber heute geht kein Bus mehr, leider."
Wieso, fragen wir uns, gibt es einen Unterschied der Klassen, wenn sie gleich viel kosten, und in beiden kein Bus geht?
An einem anderen Schalter hoeren wir, die Strecke wird von der zweiten Klasse nicht bedient. Der Erstklassebus faehrt um 16 Uhr. Wir kaufen Fahrscheine und beschliessen, eine Stunde vor Abfahrt an der Station zu sein. Diesmal kennt uns der Wachmann am Tor. Er hat einen Kollegen, der fuer den Ausgang des Wartesaals zustaendig ist, und der es gar nicht schaetzt, wenn seine Sperre von Radlern gekreuzt wird. Er entdeckt seine Langmut und fuehrt uns in einen anderen Wartesaal, dessen Ausgang mit einer identisch aussehenden Sperre versehen ist. Hinter dem Wachmann durchschreiten wir die Tuer und kommen vor dem urspruenglichen Wartesaal an. Dann will er unsere Fahrkarten sehen. Er nimmt sie und verschwindet. Nach einer Weile ruft er Bernd zu sich.
Am Fahrkartenschalter erklaert eine fremde Dame, der Bus sei ersatzlos gestrichen. Sie empfehle, nach Tepic zu fahren, von dort gebe es stuendlichen Anschluss nach Puerto Vallarta. Das ueberzahlte Geld rueckt sie ohne Diskussion raus.
Der Busfahrer sieht unsere Rikschas, schaut uns an: "Wie sollen wir das unterkriegen?" Er ruft den Equipajero, den Meister des Gepaecks. Wir schichten die Frachtraeume um, ihre Luken befinden sich unten, an der Seite des Busses. Montieren die Vorderraeder ab, schnell, schnell, gleich ist Abfahrt.
Fuer das Wohlwollen berechnet der Busfahrer 100 Pesos, 10 Dollar, pro Rad. Wir fuehlen jeden Stein auf der Strasse und wuerden uns am liebsten als Stossdaempfer zwischen unsere Pakkas legen.
In Tepic ist es dunkel. Ein Bahnsteig voller Menschen schaut uns zu, wie wir die Taschen zu einem Haufen tuermen, die auseinandergebauten Fahrraeder daneben stellen. Wo ist der Bus nach Puerto Vallarta, ja wo ist er denn? Ein Gepaeckmeister zupft Benedikt am T-Shirt. "Komm mit." Drei Busbreiten weiter steht der Gesuchte. Schnell, schnell. Bevor dieser Fahrer seine Einwaende fertig formuliert hat, liegen Raeder und Gepaeck im Bauch des Busses. Diesmal kostet die Extralast nichts, sieht man vom Trinkgeld fuer den hilfreichen Equipajero ab.
Wir haben Mut gefasst, die zweite Busfahrt lief schon viel besser als der erste Versuch. Von Puerta Vallarta nach Lazaro Cardenas, das werden wir leicht schaffen. Anscheinend haben wir eine Schraube locker. Anders ist die voellige Verkennung mexikanischen Alltags nicht zu erklaeren. Immer, wenn du denkst, es ist nicht schwer, kommt von irgendwo ein Bleiklotz her.
Auch diesmal traegt unser Feind Uniform. Der Mann, Schnurrbart und unwirsche Miene, arbeitet als Sicherheitschef im Wartesaal des Busbahnhofs Puerta Vallarta. "Ihr muesst sofort hinaus, Fahrraeder sind nicht gestattet." Wir schauen uns um, sehen andere Passagiere vor Gepaeckhuegeln sitzen. "Wir sind auch Fahrgaeste und wollen gern mit dem Bus fahren. Draussen hoeren wir doch nicht, wenn er ausgerufen wird!"
"Wo ist eure Fahrkarte?" "Haben wir noch nicht, weil der Mann am Schalter gesagt hat, wir muessen warten, ob im Bus Platz fuer das Gepaeck ist." "Dann muesst ihr raus hier, aber sofort."
Wir beschliessen, Widerstand gegen die Staatsgewalt zu leisten. Der Bus soll gegen 1 Uhr fahren, jetzt ist Mitternacht, eine Stunde werden wir den Nervtoeter aushalten. Der Schaltermann sagt: "Eure Chancen, mitgenommen zu werden, stehen 5 zu 95." Einen Tag zuvor hatten sie wie immer getoent, Fahrradtransport sei voellig problemlos.
Im Schlussakt des Dramas auf dem Busbahnhof treten die Hauptakteure auf. Sie tragen weisse Hemden und die Verantwortung fuer die Wohlfahrt der Reisenden. Zwischen ihnen sind die Rollen verteilt. Der Gute hat ein Bubengesicht und Unschuld im Blick. Fuer einen Busfahrer scheint er nicht abgekocht genug.
Sein Kompagnon, wir glauben auch Lehrmeister, hat zu viele Strassenkilometer gesehen, um Mitleid mit vier Radlern zu haben.
Es erhebt sich eine Diskussion aus halb verschluckten, gezischten und gefluesterten spanischen Saetzen, wir verstehen nur die Haelfte. Sie macht uns mutlos genug. Der erste Sicherheitsmann sagt, wir muessen die Halle verlassen. Der gute Busfahrer meint, es gibt genug Platz im Wagen. Der Ticketverkaeufer glaubt nicht, dass jemals Menschen mit so viel Gepaeck befoerdert wurden. Der zweite Sicherheitsmann will uns nicht durch seinen Hoheitsbereich, die Sperre, lassen. Der boese Busfahrer sagt, in seinem Bus durften noch nie Fahrraeder mitfahren.
Wir werden stumm, steif und unnachgiebig, draengen uns durch den Ausgang auf die Abfahrtsrampe. Ungeruehrt von dem Streit beginnen wir, Taschen und Raeder zu demontieren. Unsere uebermaechtige Praesenz verleitet zwei Gepaeckmeister, hinter den Busluken nach Platz zu graben. Als alles verstaut ist, sind wir in die Falle gegangen. Zwar hat der boese Busfahrer seinen Widerstand aufgegeben, die Gepaeckmeister haben ihr Trinkgeld eingestrichen, der Ticketverkaeufer die Fahrscheine ausgedruckt und ihren Preis kassiert. Doch wir sitzen im Bus und vor seiner Tuer haben sich unsere Feinde zum Kriegsrat versammelt. Sie verhandeln, wieviel uns die Ruhe der kommenden Stunden wert sein muss.
Der boese Busfahrer winkt Benedikt zu sich heraus und teilt den Spruch des Standgerichts mit: 50 Pesos fuer jeden der Beteiligten. Wir staunen ueber die mangelnde Professionalitaet. Bei der ersten Fahrt wehrte sich der Fahrer nicht und kassierte, natuerlich steuerfrei und ohne Abzuege, 400 Pesos.
Trotzdem beschliessen wir, Raeder und Busse kuenftig getrennt zu halten.

            


Liebeskrank in Troncones

             

Troncones kommt uns als Versprechen am Strassenrand entgegen. Wir haben in La Union uebernachtet. Nicht im Ort, sondern an der Stelle, wo die Strasse nach La Union von der Mex 200 abzweigt. Hinter einem kleinen Restaurant haben wir die Zelte an einen Bolzplatz gestellt.
Ein paar Jungs versuchen, sich am Ball zu ueberlisten. Nachdem wir die Haeringe eingeschlagen und die Schlafmatten ausgerollt haben, trollen sie sich. Noch 52 Kilometer bis Zihuatanejo, das sehen wir am Morgen auf dem ersten Kilometerstein.
Unsere Landkarten zeigen auf dem Weg einige Doerfer, keines liegt nahe am Meer. Wir sollten ab jetzt nach einer Unterkunft suchen, sagen wir. Die Mex 200 schwingt sich ueber kleine Huegel. "Tolerable", hatte der Busfahrer am Abend gesagt, als wir ihn ueber die Strecke ausfragten.
Ohne Eile fahren wir, bis die Muenchner Freunde kommen, haben wir noch eine Woche Zeit. In Lagunillas setzen wir uns unter ein Palmdach, trinken Orangensaft und Ananaswasser. Die Sonne zwiebelt. In einer Kurve taucht eine Reklamewand auf. "Bungalows for rent", steht dort. Die Buchstaben auf dem gruenen Hinweisschild ein paar Meter vorher, sind ausgeblichen, wir finden es spaeter, als wir laengst in Troncones zu Hause sind. Deshalb geht die Ueberraschung tief, als wir nach dreieinhalb Kilometern und zwei Huegeln in einem Dorf ankommen. Wir stehen am zentralen Strassen-T. Hier trifft die geteerte Zufahrt den Sandweg, der parallel zum Strand von Sueden nach Norden fuehrt.
Benedikt fragt die wartenden Taxifahrer, wo wir eine Unterkunft fuer laengere Zeit finden koennen. Der Taxifahrer will seine Warterei nicht unterbrechen und zeigt auf einen Jungen im Fussballtrikot. Jose arbeitet manchmal als Fischer und manchmal in der Bretterbude, die um zwei Billardtische herum errichtet wurde. Jose wird uns zeigen, was Troncones anbietet.
Zuerst fuehrt er Benedikt und Bernd zu den Haeusern der US-amerikanischen Herbergsprofis. Auf einem der Grundstuecke gefallen uns die Rundhuetten sehr. Ein Bett unterm Palmendach, Nasszellen. Alles sehr erdverbunden bemalt, aber die Preise liegen ausserhalb unserer Reisekasse. Jose scheint ratlos, bis ihm das Restaurant "La Gaviota" einfaellt.
Im Hof, unter dem Papayabaum, steht Dona Amadea. Sie lacht ueber beide Backen, zeigt prachtvolle silbrige Schneidezaehne und klatscht in die Haende: "Oh muchachos, Gott hat Euch geschickt, bestimmt hat Gott Euch geschickt, oh muchachos." Sie umarmt Elisabeth und Kerstin, redet ununterbrochen weiter, von ihrem Gott, der sie ein Holzkreuz im Wald finden liess, von einem Englaender, der lange in ihrem Haus wohnte, dem Schweizer muchacho Marc, der soeben ein Zimmer gemietet hat, und dass sie uns bitten muesste, waehrend des Monats selbst zu putzen. Wir wuerden schon verstehen.
Wir nicken vorsichtig, haben natuerlich laengst nicht alles verstanden, von den sprudelnden Worten, denen die Dona unterm Sprechen flink Kopf und Schwanz abbeisst.
Schon sind wir verliebt in das Haus, seine fuenf Zimmer und alle ihre Schwaechen. Wir planen die Belegung, bevor wir unsere Raeder vom Gepaeck befreit haben. Daniela und Ottmar werden in dem Zimmer schlafen, in dem es ein Ehebett und eine Dusche gibt. Zwar fehlt der Brausekopf, doch Wasser gibt es. Es sprudelt aus einem Loch in der Wand. Manuela, Andi und Soehnchen Max verordnen wir die Suite. Zwei Doppelbetten und Bad. Der Ventilator an der Decke springt nicht an. Den Schalter wird Max nach zwei Wochen hinter einem Vorhang finden. Er entdeckt den Knopf durch ungebaendigten Forscherdrang, den uns dreijaehrige Kinder voraus haben.
Wir selbst ziehen in die zwei anderen Zimmer ein, die kein Privatbad haben. Nach Monaten im Zelt ist uns eine Dusche, die wir mit nicht mehr als einem Mitbewohner teilen muessen, Luxus genug. In dem schmalen Bad haengt ein Waschbecken, so gross wie eine Salatschuessel, dem Klo fehlt die Brille, aber beide Steingutassessoires sind in beruhigendem bordeauxrot gehalten.
Wir sind am Ziel und geben uns der umfassenden Anwesenheit des Meeres hin. Es liegt vor Troncones wie eine nachtblaue Unendlichkeit mit einem lebendigen Saum aus weisser Gischt. Nie hoert seine Bewegung auf, selbst wenn wir das Wasser nicht sehen, dringt es in unseren Kopf. Es umhuellt das Gehirn mit unaufhoerlichem Rauschen, Gurgeln und Schaeumen, watteweich und ohne Aggression. Wir wissen nichts von Troncones, wir ahnen, hier wird aus drei Wochen freier Zeit ein guter Urlaub werden.
Wir haben die Freunde am Flughafen in Mexiko Stadt getroffen und sind ueber Nacht mit dem Bus nach Zihuatanejo gefahren. Jetzt stehen sie, winterbleich und uebernaechtigt, am Busbahnhof. Eine Stunde spaeter steigen wir in die zweite Klasse, die uns an der tronconischen Abzweigung hinauslaesst. Die Rucksaecke wiegen schwer, wir teilen uns in zwei Gruppen und ueberlassen uns den Zufaellen des mexikanischen Transportsystems. Eigentlich verbindet ein blauer Pick-up mit handgeschweisster Fahrgastkabine Troncones und die Welt. Niemand weiss, wie sein Fahrplan aussieht, mal kommt das Auto, mal kommt es nicht. Also halten wir den ersten Kleinlaster an, der in unsere Richtung steuert. Der Fahrtwind zaust die Haare und hinter dem Huegel stehen wie immer drei Esel, sie haben an Urlaubern kein Interesse.
Folgen Tage, so ruhig wie die Sonne, die jeden Morgen hinter den Bergen um Ixtapa aufgeht und jeden Abend ins andere Ende des Pazifiks taucht. Max wird morgens als erster wach, fordert Fruehstuecksservice von Manuela oder Andi. Dann taucht Ottmar auf, der sich gelegentlich zu einer Runde Rennen am Strand ueberredet. Bis um zehn oder halb elf haben alle die Betten verlassen. Strandbesuch, Vorbereitung zur Siesta. Palmdachschatten oder Haengematte beschwichtigen die Hitze des Mittags.
In den Rucksaecken der Muenchner steckte Lesefutter fuer alle. Nachmittags erhoeren wir das Meer noch einmal. Duschfeucht stellen sich die Tageskoeche, wir wechseln uns ab, an die zwei Gasflammen der Kueche. Fisch, Fleisch, Krabben, Kartoffeln, Kaktusblaetter und Pasta, wir probieren das Angebot des Marktes in Zihuatanejo durch. An anderen Tagen testen wir die Restaurants, den "Burro Borracho" (besoffener Esel), "Tropic of the cancer", Dona Amadeas Lehmherd, Dona Nica oder Jazmin. Bald einigen wir uns, wo weniger Norteamericanos auftauchen, schmeckt es besser.
Wir sind von diesem Ort infiziert und lieben es, dass unsere Koerper unter der Tronconitis schlaff werden. Wir wollen nicht therapiert werden und deshalb schieben die Muenchner das einzige Mittel der Heilung, den Abflug nach Europa, um vier Tage nach hinten.

            
Es sind nicht viele Dinge, die beachtet werden muessen, um in Troncones gluecklich zu sein. Ein taeglicher Hoehepunkt ist die Ankunft des Bierlasters. Der fette Fahrer teilt die Kartons mit den braunen Literflaschen und den schlanken Medias freigiebig aus und rechnet die Zeche gern auf seinem Taschenkalkulator zusammen. Auch er leidet an der Pfandrueckgabeschwaeche, aber diesen Kampf bewahren wir uns fuer spaeter auf. Zuerst soll er liefern, damit immer genug kaltes Corona im Hause steht. Der Kuehlschrank schnurrt, er beschwert sich nie.
"Ding, ding, ding, el gaaas", den Gasmann haben wir nur einmal gebraucht, aber die Ansage aus dem Lautsprecher am Fuehrerhaus gibt uns jedesmal einen Grund zum Lachen.

            
Max hat beschlossen, die laestige Duscherei abzustellen. Er zieht einen kalten Guss aus dem Eimer vor und bewahrt den Sand vom Meer in Nase und Ohren auf. Sein blonder Haarschopf ist ein Kardinalreiz fuer alle Mexikaner. Steht er auf der Strasse, schaut beispielsweise den Schweinen hinterher, die von Abfallhaufen zu Abfallhaufen traben, taetscheln Passanten seinen Kopf. Keiner macht eine Ausnahme. Max gibt dazu keinen Kommentar ab.
Die Sonne hat Braeune auf die bleiche Europaeerhaut gemalt, die Tuben fuer den Lichtschutzfaktor 32 sind leer, jetzt reicht 15 oder 18. Fuer die Abende haben wir Nelkenoel gekauft. Es riecht im Haus ein bisschen nach Lebkuchen und die Muecken lassen sich tatsaechlich ablenken. Nicht alle, natuerlich. Wir reiben die geschwollenen Stiche und feuern die Geckos an. Sie haengen mit den Ruecken nach unten an der Decke, so traege wie wir. Sie sollen mehr Mosquitos fangen. Die Geckos lassen sich nicht dreinreden, manchmal schreit einer zurueck: "Geckgeckgeckgeck". Doch weder Muecken noch fingergrosse Kakerlaken vermindern die Liebe zu unserem Troncones. Nur zwei Skorpione haetten es beinahe geschafft, uns wankend zu machen. Als der erste im Alkohol schwimmt, ein tierisches Souvenir und fest in ein Plastikroehrchen eingeschlossen, und der andere zerdrueckt im Abfalleimer liegt, sind auch diese Attacken auf unsere besinnungslose Tronconitis erstickt.
Unser Abschied gilt dem Meer. Weit draussen winken Wale mit ihren Brustflossen zum Land hin. Sie pusten dampfende Fontaenen ueber die Wellen hin. Naeher am Strand gleiten Pelikane in Ketten vorbei, immer eine Handbreit zwischen sich und dem Wasser. Ein Wind streichelt die Haut. Wir traeumen. Sogar Manuela, die standfeste, wird poetisch. Sie kaut an ihrem Kugelschreiber, schaut hinaus, vielleicht Fischerbooten hinterher, und dann schreibt sie: "Das Eintauchen in das mexikanische Lebensgefuehl gleicht dem Eintauchen in eine pazifische Welle. Man wirbelt umher, ist kurz erschrocken, taucht wieder auf und ist erfuellt von einer grenzenlosen Glueckseligkeit."