13. Reisebericht vom 22. Maerz 2002

Puerto Escondido - San Christobal de las Casas
 
Chiapas sehen heisst klettern lernen

Wir brauchen eine Klima-Veraenderung. Seit Monaten liegt der Pazifik rechts und vor uns hoppelt die Strasse huegelauf und wieder hinunter. An einem Meer, denkt man, schaut man sich nicht muede, so wenig, wie man sich an Fisch ueberessen kann. Gegen diese Regel und unsere Liebe zu den wechselnden Farben des Wassers und seiner uebermenschlichen Wucht, wuenschen wir uns Berge unter die Pedalen. Wir moechten kilometerweit aufs Land schauen und den neuen Rhythmus von stundenlangem Bergauffahren spueren.
Deshalb beschliesst Kerstin, nicht erst in Guatemala ins Hochland zu starten, sondern bereits in Chiapas. Unser Ziel heisst San Christobal de las Casas, 2.100 Meter ueber dem Meer und jenseits der salzhaltigen Kuestenluft.
In Puerto Escondido gelingt uns ein halbwegs frueher Start. Im Zelt nebenan ist es noch still, als wir das unsere laengst zusammengerollt haben. Von dort war jeden Morgen gegen 8.30 Uhr die junge Liebe eines mexikanischen Teenagerpaerchens zu hoeren gewesen. Minuten nach dem Gefuehlsausbruch war stets der blondierte Junge zuerst aus dem Zelt gekrabbelt und hatte sich, einen verlegenen Grinser als Gruss herueberschickend, ein Handtuch um die verraeterischen Boxershorts geschlungen.
Wir wechseln ein paar Worte mit einem Japaner, der auf seiner Enduro-Maschine aus Argentinien kontinentaufwaerts gefahren ist. Er bezweifelt, dass man in Bolivien radfahren kann.
Etwa 20 Kilometer hinter Puerto Escondido kommt uns ein bepackter Radler entgegen. Der Daene, wir vergessen leider, nach seinem Namen zu fragen, hat hinter sich, was wir vor uns haben. Wir quatschen ein bisschen ueber die Strassenverhaeltnisse im Sueden. Er erzaehlt einige seiner Erlebnisse und ist uns auch mit seiner pragmatischen Einschaetzung der Gefahren ruckzuck sympathisch. Dann packt er seinen kleinen, persoenlichen Wahnsinn aus: Er hat einen Termin in San Diego und will die mehr als 3.000 Kilometer dorthin in 20 Tagen radeln. "Meine Beine habe ich gefragt, die sind einverstanden, nur mit meinem Hintern habe ich ein paar Probleme." Seine Vorgabe sind 100 Meilen am Tag, die er, ohne auf Huegel zu achten, mit seinem Anhaenger im Schlepptau, durchpfluegen will. Wir sind unglaeubig, wuenschen ihm viel Spass.
In Pochutla belegen wir zur Mittagspause die Haengematten eines Restaurants. "Todo parejo", "alles eben", beschreibt die Kellnerin die kommende Strasse. Natuerlich bedeutet diese Einschaetzung aus Sicht einer Autofahrerin jede Menge Huegel und zwar nicht nur Bodenwellen. An der Abzweigung nach Santa Maria Huatulco, zu dem die Fonatur-Touristen-Enklave an den neun Buchten gehoert, fragen wir eine Restaurantbesitzerin, ob wir neben ihrer Kueche kampieren duerfen. Kein Problem, sagt sie, doch nach einigem Ueberlegen liegt uns der Platz zu nah an der Strasse.
Wir fahren zurueck in das Dorf "Colonia 20. Noviembre", weil es dort eine "Casa de Huespedes" geben soll. Zwei Maenner, die am Strassenrand sitzen, erklaeren, das Gasthaus sei geschlossen, aber wir duerften gern bei ihnen bleiben.
Vor kurzem hat Don Severo eine Huette neben seine alte bauen lassen. Wunderbar glatter Betonboden unter einem Ziegeldach, wir muessen nicht einmal das Zelt aufstellen, unsere Matratzen auf der Plastikplane geben ein komfortables Bett.
Nachdem wir eingerichtet sind, setzen wir uns zu Jorge und Jorge, zwei Nachbarn von Severo, an den Buergersteig, um zu plaudern. Es wird ein Gespraech ueber Gott und die Welt und das Elend in Mexiko.
Der erste Jorge, 42 Jahre alt, verdient sein Geld als Taxifahrer. Jorge 2 ist 36 Jahre alt und arbeitet als Gas- und Wasserinstallateur, wenn es Auftraege gibt. Meistens hat er nichts zu tun. Jorge 1 sagt: "So wie Don Severo leben wir alle hier in in der Colonia 20. Noviembre. Schaut euch um bei ihm: Ein Schwarzweiss-Fernseher, ein Kuehlschrank, der nicht kuehlt. Keiner der Politiker kuemmert sich um Kanalisation oder fliessendes Wasser, obwohl sie es alle versprechen."
In der Hotelzone von Huatulco wurden keine Arbeitsplaetze fuer Mexikaner geschaffen. Die dort angesiedelten Hotels gehoeren europaeischen oder us-amerikanischen Ketten und die vergeben die gut dotierten Jobs an ihre Landsleute. Wird mal ein Mexikaner angestellt, zupft er fuer einen Tageslohn von 11 bis 19 Pesos (ein bis zwei Dollar) vorwitziges Gras aus den Rabatten.
Eine andere Jorge-Geschichte geht tief:
Er zeigt auf ein Haus an der gegenueberliegenden Strassenseite. Dort wohnt eine Indianerin mit Kindern. Eines Tages toetete ein Fonatur-Funktionaer ihre Tochter mit dem Auto. Das Maedchen war schwanger. Als Duldegeld zahlte Fonatur 25.000 Pesos. Jorge sagt: "Die Frau hat nie eine Schule besucht und wusste nichts mit dem Geld anzufangen. Also verschenkte sie es an die Nachbarn." Jorge 2 nahm 5.000 Pesos, Severo war mit 10.000 zufrieden. Zum Schluss blieb der Frau nichts als die Holzhuette. Ihre Kinder werden nie zur Schule gehen, denn das kostet bereits waehrend der Secundaria 400 Pesos pro Nase im Monat. Die Kleinen tummeln sich den ganzen Tag auf der Strasse und manchmal finden sie ein paar Coladosen, die sie dem Schrotthaendler fuer einige Centavos verkaufen. Das ist das Einkommen dieser Familie.
Jorge erzaehlt von den christlichen Konfessionen, die in der Colonia zu Hause sind. Am seltsamsten findet er die "Sabadistas". Ihnen ist der Samstag heilig, sie arbeiten an diesem Tag nicht. Das Dorf ist vor allem zwischen Protestanten und Katholiken geteilt. Die Jorges wissen genau, in welcher Baracke Protestanten wohnen.
Ebenso aufgeteilt sind die umliegenden Laendereien. Zur Seite der Kueste hin wachsen Bananen, Mangos, Papayas und Zuckerrohr. Richtung Berge pflanzen die Bauern Marihuana.
Spaeter liegen wir in unserer Privathuette. Nebenan schnarcht Don Severo. Die Hunde der Colonia klingen, als ob sie die ganze Nacht wach bleiben wollten.
Die naechste Etappe laesst sich nicht in den 67 Kilometern messen, die der Tacho am Abend anzeigt. Ein wenig gewarnt waren wir durch die Anfahrt auf Santa Maria Huatulco, doch nicht genug.
Vielleicht waeren die Kuestenhuegel allein gar nicht so uebel, wenn nicht die Sonne mit aller Macht versuchen wuerde, uns aufzubrutzeln. An einen Radrhythmus ist nicht zu denken: raufquaelen, runterrollen, raufquaelen - eine Strasse ohne Verstand. Zwischen den Bueschen haelt sich kein Stueck Schatten auf, und an den Steilstellen steht die Luft. Das ist Freiluftsauna.
Auch unsere Augen haben keine Freude. Rechts und links sehen wir Felsen, vergilbte Buesche, duerre Baeume. Als widerliche Zutat begleitet uns Plastikmuell und der Geruch nach tierischen Verkehrsopfern, die vor dem Vertrocknen noch ein wenig auslaufen. Warum sollen wir luegen? Radfahren ist tatsaechlich nicht immer eine angenehme Arbeit, da helfen auch die freundlich gemeinten Hupsignale und nach oben gereckten Daumen der Autofahrer nicht viel.
In Coyul sind dieser Tag und wir am Ende. Wir schaffen es noch, die Besitzerin der "Casa de Huespedes" um 20 Pesos runterzuhandeln und lassen uns dann von einer kalten Dusche beruhigen.
Vielleicht aus Trotz nehmen wir uns fuer den folgenden Tag mehr als 100 Kilometer vor. Eine Bierverkaeuferin hatte gesagt, die Strasse sei nicht mehr so kurvig. Kurven bedeuten fuer Radler meistens Muskelschmerzen, weil sie sich stets um Huegel herumziehen.
Die ersten 50 Kilometer laufen wie am Asphaltschnuerchen. Die Landschaft hat sich veraendert. Zwischen den Huegelleibern, die sich bis zum Pazifik ziehen und uns wie faule Riesenhunde im Weg liegen, erstrecken sich weite Ebenen, in denen wir unter Kokospalmen Doerfer sehen. Spaeter freuen wir uns an dem Sandstreifen der Bucht bei Salina Cruz. Vor der Stadt muessen wir nochmal einen Anstieg bewaeltigen, dann rollen wir durch den Barackenguertel Richtung Hafen.
Ab Salina Cruz, von dem wir ausser unserem Hotel und einem Restaurant nichts sehen, wendet sich die Mex 200 landeinwaerts und fuehrt voellig eben ueber Santo Domingo Tehuantepec und Juchitan de Zaragoza in groesserer Entfernung an der Kuestenlinie entlang, um durch das Tiefland von Chiapas Guatemala zu erreichen.
Die beiden Staedte machen einen sehr indianischen Eindruck. In Tehuantepec setzen wir uns vor die weissblau gestrichene Kirche, trinken einen Liter Cola und schauen den Frauen beim Gang in die Messe zu.
Die Mittagspause verbringen wir in Juchitan, einem freundlichen Staedtchen, dessen Bewohner zum Sonntagsvergnuegen den Zócalo bevoelkern. Viele Augen mustern unsere aufgesattelten Raeder, man gruesst freundlich.
Spaeter fahren wir an der Strassengabel vorbei, von der die Mex 185 nach Veracruz zum Atlantik abgeht, und noch ein paar Kilometer weiter bis La Venta.
In den ersten Minuten wissen wir nicht recht, an welcher Tuer wir um eine Campinggelegenheit bitten sollen. Wir radeln langsam an dem Dorfplatz vorbei. Sombreromaenner verbringen den lauen Abend mit ihren Frauen. Aus einem Lautsprecher stroemen Schlager.
An der "Casa de Salud" reizt uns der umzaeunte Garten. Kerstin tritt zum Fragen ein und kommt bald zurueck, weil auf die Rufe niemand antwortete. Eine aeltere Dame aus einem Nachbarhaus ruft: "Da muss jemand sein, probier es nur weiter!" Fredy, der junge Dorfarzt hat geschlafen, doch als er hoert, um was es uns geht, spricht er sofort die allumfassende Einladung: "Pasale, pasale." "Kommse rein, kommse rein."
Leider wohnen in diesem Garten auch winzige aggressive Muecken, die uns sofort Blutpunkte auf die Beine setzen. Zwischen den Zweigen der Baeume lassen sich dauerscheissende Voegel nieder, die das Zelt zum Ziel nehmen. Trotzdem ist dieser Platz perfekt. Aus der Hausmauer ragt ein Wasserhahn, an den wir den Gartenschlauch anschliessen. Im Schutz der Dunkelheit waschen wir den Schweiss von unserer Haut.
Vorher hatten wir auf dem Kocher Spaghetti mit einer Thunfisch-Tomaten-Kapern-Sauce gekocht. Sie schmecken delikat und fuer Fredy bleibt eine Portion uebrig.
Auch suedlich von La Venta geht die Carretera durch Bauernland. Wir treffen Ochsenkarren, die durchs Buschwerk fahren. Die Tiere ziehen die grossraedrigen Holzwagen auch durch nabentiefen Schlamm. Das ist Landwirtschaft aus einem anderen Jahrhundert und hat nichts mit den geschniegelten Benutzern des Asphalts zu tun. Fuer die Fuhrwerke verlaufen rechts und links neben der Fahrbahn eigene Wege. Die Holzraeder haben Rillen in den Lehm gedrueckt.
Zum Mittagessen halten wir in Zanatepec. Kerstin legt sich in eine Haengematte und kommt mit zwei Burschen ins Gespraech, die ebenfalls im Schatten sitzen.
Jorge und Alex, 26 und etwa 16 Jahre alt, sind seit neun Tagen aus Honduras in die USA unterwegs. Natuerlich ohne Papiere, natuerlich mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Geld und Gepaeck haben sie nicht, aber Angst: Vor der Polizei, die sie ueber die Grenze nach Guatemala verfrachten wird, sobald sie sie zu fassen bekommt. Vor der Eisenbahn, von der schon viele uebermuedete Fluechtlinge in den Tod gefallen sind. Vor anderen Fluechtlingen, die ihnen wegen ihrem einzigen Hemd ohne Zoegern ein Messer in den Bauch rammen wuerden. Sie schauen auf unsere Landkarte und scheinen erschrocken, als sie sehen, wieviel Mexiko bis zur Grenze noch zu ueberwinden ist. Wir wuenschen den beiden braven Traeumern viel Glueck fuer ihr Leben.
In Tapanatepec suchen wir nicht wirklich nach einer billigen Unterkunft und sind froh, dass ein Hotelier uns in seinem Hof campieren laesst. Unser Zelt steht, als zwei Hollaender, Merfen und Rene, auf Fahrraedern eintreffen. Merfen hat vor ein paar Jahren einen anderthalbjaehrigen Radtrip nach China unternommen, wir haben viel zu erzaehlen.
Von San Pedro Tapanatepec steigen wir die erste Stufe ins Hochland auf. Etwa 700 Hoehenmeter liegen auf zehn Kilometern vor uns. Die Strasse laesst es in netten Schleifen angehen und nach zehn Minuten Radeln tropfen wir wie Badeschwaemme. Doch schon ab den ersten hundert Hoehenmetern verlaesst uns die Schwuele. Die Landschaft zeigt sich gruener und wir haben Ausblick auf Bergketten, die sich zur Sierra Madre de Chiapas vereinigen.
Spaeter sagen uns Plakattafeln, dass wir tatsaechlich in Chiapas angekommen sind. Einen Militaerposten, wie er ueblicherweise die Staatsgrenzen in Mexiko bewacht, kreuzen wir nicht.
Richtung Cintalapa wird die Ebene weit, die Strasse fuehrt wie ein Strich durch das Weideland. Ein Ranchero, bei dem wir unsere Mittagshaengematte finden, erklaert uns ein paar der Unterschiede zur Kueste. Wenn dort ein Bauer, der 50 Kuehe hat, sich bereits gross nennen darf, stehen hier auf den groesseren Hoefen 500 und mehr Viecher. Verdient unten ein Tageloehner 80 bis 100 Pesos, kriegt er hier 30 bis 40 Pesos in die Hand. Der Ranchero klagt ueber die Faulheit seiner Arbeiter.
In Cintalapa, das hatten die Hollaender gewusst, gibt es einen Campingplatz mit Swimmingpool. Wir muessen nicht ueberredet werden.
Der naechste Tag, die naechste Stufe aufs Hochland. Bis Ocozocoautla geht es einmal maechtig hinauf. Der 400-Meter-Anstieg, der zur Hauptstadt Tuxtla Gutierrez fuehrt, scheint uns danach gar nicht mehr wild zu sein. In einer rasanten Abfahrt stossen wir zwischen die kaempfenden Microbusse im Stadtverkehr. Koennte sein, dass dieses Tuxtla seine netten Seiten hat, aber wir fuehlen uns im Gedraenge nicht wohl. Am Zocalo verabschieden wir die Hollaender. Sie haben ein strenges Programm, wollen in sechs Wochen von Mexiko Stadt ueber Guatemala nach Belize zu einem Tauchurlaub fahren. Kerstin und Bernd beschliessen, noch 13 weitere Kilometer bis Chiapa de Corzo zu fahren.
Diese niedliche Kolonialstadt liegt am Rio Grijalva, der den Sumidero Canyon in den Fels geschnitten hat. Den wollen wir uns anschauen.
Unter den zwei Hotels suchen wir das billigere aus, und ueberreden die Herbergsmama zu einem Radlerrabatt.
Wir schimpfen mal wieder ueber unseren Reisefuehrer, der das Bleiben in dieser aeltesten Siedlung Mittelamerikas nicht empfiehlt. Es ist sehr angenehm, durch die stillen, meist von eingeschossigen Haeusern gerahmten Strassen zu laufen. Auf dem Zocalo, der ein paar Nummern zu gross fuer das Staedtchen wirkt, finden wir an Strassenstaenden was Anstaendiges zu essen. Hier serviert man zu den Tacos gesalzenes Weisskraut.
Ohne Wecker wachen wir vor sieben Uhr auf und stellen uns frueh an die Anlegestelle der Boote. Man muss warten, bis eine genuegend grosse Gruppe versammelt ist, dann laesst der Bootsfuehrer den schweren Yamaha-Motor an und der Bug des Kahns klatscht hart ueber die Wellen des Rio Grijalva.
Wir sitzen vorn, zwischen uns und der Aussicht auf die fast einen Kilometer hohen Waende des Canyons hebt sich nur gelegentlich die Bootsspitze. Im Canyon haengen Wolkenschleier. Sie geben dieser mehr als 30 Millionen Jahre alten Skulpturlandschaft reizende Lichteffekte. Spaeter reisst der Himmel auf und legt die bunten Steinschichten weit ueber uns frei. Die Farben wechseln von ockergelb zu fast schwarzem Grau. Sie ragen als schroffe Hoehen auf und jeder Meter des Wegs schafft neue Perspektiven. Wir sind viel zu schnell, um das alles erfassen zu koennen. Irgendwann, und zwar zu schnell, erschoepfen sich die Augen an den gewaltigen Dimensionen und nehmen nur noch Einzelheiten auf. Wir werden rigide auf unsere menschliche Winzigkeit reduziert.
Der Kalk des herunterrinnenden Wassers hat Verzierungen am Fels wachsen lassen. Manche sehen aus wie Seepferdchen, wir sehen den "Weihnachtsbaum", Haltepunkt jeder Tour. Hier faellt ein Rinnsal in der Regenzeit ueber sich verbreiternde Stufen in den Fluss. Die christliche Phantasie hat aus den Kalkfaechern eben einen Weihnachtsbaum gemacht.
Wir hoffen, dass die ueberhaengenden Steinbloecke an ihrer Stelle bleiben, so lange wir unter ihnen vorbeipreschen. Der Bootsfuehrer haelt den Gashebel fast immer durchgedrueckt und so machen es auch die anderen. Vermutlich haben sich deshalb die Tiere zurueckgezogen. Nur Reiher und Geier stoeren sich nicht am selbstherrlichen Auftreten der Menschen, wir sehen sie in Kolonien am Ufer hocken.
Die 72 Kilometer bis San Christobal de las Casas sind als "Inclinacion increible" angekuendigt. Das hatte uns der Kanadier Simon geschrieben, der diesen "unglaublichen Anstieg" jedoch auf einem Pick-up hinter sich brachte. Von Chiapa de Corzo geht die Strasse geradewegs auf den Bergbuckel zu, um in einem weiten Rechtsschwenk Ernst zu machen. Weit oben sehen wir Busse und Lkw durch die Luecken der Buesche kriechen, wir strampeln hinterher.
Die Beine sind geschmeidig, fast hungrig auf weitere Hoehenmeter. Spaeter umrundet die Carretera eine Felsnase, wir sind am Ende der Frontflanke des Bergs angekommen. Hier oben ist es ein wenig kuehler, angenehm.
Wir erwarten ein sanftes Stueck, es ist als Gerade in unserer Karte eingezeichnet. Doch so etwas gibt es auf dem Weg nach San Christobal nicht. Auf der stetig steigenden Strasse erreichen wir ohne Vorwarnung die naechsten Schlangenkurven.
Gegen Mittag halten wir an einem Indianergehoeft und setzen uns neben ein Maisfeld. Die reifen Kolben werden hier von den Staengeln gebrochen, den Rest knickt der Wind, die Pflanze verfault bis zur naechsten Aussaat. Wir sind im Indianerland angekommen und bald sehen wir das typischte aller Fotomotive: Frauen mit roten Umschlagtuechern und roten Baendern in den Zoepfen tragen an einer Schnur um die Stirn Brennholzbuendel.
Es beginnt zu regnen, die Steilheit nimmt scheinbar kein Ende. Vor uns haelt ein weisser Kastenwagen. Ein grossgewachsener, graubaertiger Mann und eine fuellige Frau steigen aus. Robert und Rosina, Kanadier aus Victoria, laden uns zum morgigen 13. Geburtstag ihrer Tochter Sarah in ihr Haus in San Christobal ein. Die Herzlichkeit gibt uns Kraft, wir lehnen das Angebot ab, im Auto mitzufahren.
Die Haende, der europaeischen Kaelte entwoehnt, beginnen taub zu werden. Zum ersten Mal seit Monaten frieren wir ernsthaft, und wuenschen, die Handschuhe griffbereit zu haben. Die 20 Kilometer bis zum Ziel werden ein verdammt langes Stueck fuer muede Beine.
Ein rasanter Abhang bringt uns in ein Dorf, das mangels Ortsschildern seinen Namen nicht verraet. Auf der Karte ist es natuerlich nicht eingetragen. Cafe de Olla und eine Portion Schweinerippchen aus der Pfanne machen uns ein bisschen waermer.
Noch einmal klettern wir, diesmal wegen der Berge, die das Tal von San Christobal einfassen. Uns kommen Maenner auf Fahrraedern entgegen, wohl auf dem Rueckweg von der Arbeit. Sie sitzen entspannt im Sattel, schauen uns vergnuegt und erstaunt an, vermutlich wirken wir gequaelt. Endlich, vier Kilometer vor der Stadt, beginnt die erwartete Abfahrt. Der Tacho an Kerstins Lenkstange sagt, wir sind 2200 Hoehenmeter hinaufgefahren.
Fuer das Geburtstagskind Sarah kaufen wir den "kleinen Prinzen" und den Gastgebern eine Flasche Wein. Unter der genannten Hausnummer sehen wir ein genarbtes Holztuerchen in einer ehemals weissen Mauer. Sie sieht aus wie Mauern, die zu Kilometern in den Kolonialstaedten stehen. Dahinter verbirgt sich unser Haustraum.
Robert und Rosina sind vor 22 Jahren aus Afghanistan ausgewandert und haben sich in der Stadt vier Hektar Land gekauft. Frueher werkte darauf eine Ziegelei, man schaufelte eine Grube, aus der Lehm gewonnen wurde. Spaeter nutzten die Nachbarn das Loch als Muellkippe. Robert erzaehlt, das Haus sei eine Ruine gewesen. Eigentlich besteht es aus mehreren eingeschossigen Gebaeuden, die sich um einen Hof gruppieren. Der braune Anstrich, die Saeulen, sie tragen ein Vordach, unter dem wir wie in Arkaden sitzen. An die Waende hat das Ehepaar afghanische Teppiche gehaengt, erdige Muster. Der Fussboden, gebrannte Ziegelsteine, im Lauf der Jahre zu Mulden getreten, der Garten, eine Wildnis aus Straeuchern und Baeumen, denen man die gaertnernde Hand nicht ansieht. Weiter hinten hat Robert seine Pferde an einen Schuppen gebunden. Stute, Hengst und Fohlen, eine stille Familie. In den meisten Zimmern sehen wir durch die glaslosen Fenster Buecherhaufen liegen, sie verstroemen die Nachlaessigkeit, aus der dieses Haus seinen Charakter bezieht.
Robert und Rosina haben Freunde aus der Stadt eingeladen, es ist so etwas wie der Intellektuellenzirkel von San Christobal. Architekten und Restaurantbesitzer sitzen um uns, ein Volontaer aus dem Museum "Na Bolom". Man unterhaelt sich in einer gepflegten Mischung aus Spanisch und Englisch.
Wir lernen Fritz Steiner kennen, er ist Oesterreicher aus Amstetten an der Donau und selbst in beiden Fremdsprachen klingt sein fast wienerischer Zungenschlag durch. Er lebt seit zehn Jahren in San Christobal und sagt, er verdiene sein Geld mit Malerei und einem taeglichen Halbstundenkonzert im Cafe "La Revolucion". Er ist ein Bohemien ohne Boheme. Nach einem Einbruch in seinem Haus fehlen ihm das Fahrrad, seine beste Gitarre und alle Dokumente. Er litt einen Monat Depressionen, jetzt fuehlt er sich erleichtert, sagt Fritz.
San Christobal de las Casas hat, seit wir es vor neun Jahren besuchten, sein Aussehen veraendert. An den Raendern haben sich wilde Barackensiedlungen angesammelt, ueber die Innenstadt schuetteten die Stadtherrichter kuebelweise Farbe. Sie haben den Edelstein kolonialer Architektur geschliffen, Muell wuerde sich in den Strassen unwohl fuehlen. Wir lieben diese Stadt, gerade jetzt, sie ist fuer uns ein Platz zum Ausruhen.
Manchmal stehen die Tueren in den geschlossenen Fassaden der Haeuserblocks offen. Wir spaehen in Patios, die ueberquellen von Bluetentrauben. Gern verlaufen wir uns im Schachbrett des Strassenmusters und wundern uns, warum wir die Orientierung nicht behalten. Moechten wir vielleicht weitere Meter dieser bunten Mauern sehen, die so unterschiedlich wie gleichfoermig sind. Auf den Daechern sprechen durchbrochene Steingelaender zu uns, wir ahnen Dachterrassen, von denen ein Ausblick auf die gruenen Huegel moeglich sein muss. Wir sind nicht blind, sehen die Indianerkinder am Zocalo, die unbeirrbar geflochtene Armbaender und Guertel anbieten, nicht locker lassen wollen, sich nicht mit guten und boesen Worten zur Ruhe bringen lassen. Das ist eine Seite dieser Stadt, eben nur eine Seite. Hier leben die Erben der einstigen Eroberer aus Spanien und die eigentlichen Herren des Landes in einem Block aus lebendigen Steinen zusammen, sie haben eine Form des Zusammenlebens finden muessen, selbst wenn sie es vielleicht nicht wollten. Wir bekommen waehrend unseres Aufenthalts natuerlich keinen Durchblick, sehen jedoch, wie sich an den Geschaeften spanische Namen mit Begriffen aus dem tzotzil mischen. Auch an anderen Stellen scheint diese Mischung durch, die nie mehr zu trennen sein wird, die den Bundesstaat Chiapas praegt und in Staedten ihre dichteste Erscheinungsform erhaelt. Neben uns laufen Menschen, deren Jeans und T-Shirt global aussehen, davor oder dahinter die Indiofrauen in Tracht, gefaltete Decken auf dem Kopf, im Tuch Saeuglinge, deren Durst sie mit einem Griff in ihre Ausschnitte umstandslos an jeder Strassenecke stillen.
Wir besuchen das Museum der Maya-Medizin und seinen Kraeutergarten, aus dem die Pharmaindustrie sicher Impulse gewinnen koennte und wieder das ehemalige Wohnhaus "Na Bolom" des Forscherpaars Gertrud Duby und Frans Blom. Sicher, das alles ist auch auf den romantischen Geschmack von Rucksack- und Pauschaltouristen zugeschnitten, aber es ist ein echter Teil von Mexiko.