Wo gehts ins Maya-Land? - Bergauf natürlich

14. Reisebericht vom 3. April 2002 San Christobal de las Casas - Xela/Quetzaltenango

Die Armut in Mexiko und Guatemala versteckt sich hinter den farbigen Trachten der Indianer. Auf der Strasse zwischen Sololá und Panajachel, über dem Lago Atitlán, kommt uns eine Frau mit Wickelrock und gewebter Bluse entgegen. Sie geht gebeugt. An dem Riemen um ihre Stirn hängt ein Brennholzberg. Von hinten sieht es aus, als hätten die Scheite ein Paar Füße in Plastiklatschen. Die Frau, ihre Haut ist glatt und die Schneidezähne glänzen silbern, geht in der Betonrinne neben der Fahrbahn, in der zur Regenzeit das Wasser ablaufen soll, ohne durch seine Wucht den Asphalt mitzunehmen.
Neben uns lässt die Indianerin mit einem Kopfruck die Last zu Boden knallen. Sie schnauft und wischt ihre Stirn mit dem Unterarm. "Es la vida", "Das ist das Leben", sagt sie. Ein Leben im Rhythmus des Holzschleppens. Das Bündel wird keine Woche reichen, dann muss sie wieder hinaus in den Wald am Berghang um neue Äste zu schlagen und wieder wird sie eine Stunde weit tragen. Sie fragt uns, ob wir auch so schwer arbeiten müssen. "Manchmal", sagen wir und schämen uns.
Hinter der Indianerin kommt eine Freundin oder Nachbarin. An ihrem Rücken hängt weniger Holz. Sie trägt einen Säugling im Tuch und schiebt einen etwa zweijährigen Jungen vor sich her. Um seine Stirn liegt ein Minigurt, an dem ein Holzbündelchen wackelt. So lernen sie hier, im Joch zu gehen.

Die Abfahrt aus San Christobal de las Casas ist unangenehm. Vor der Stadtgrenze halten wir an einer roten Ampel. Schräg hinter uns steht ein Taxi. Wir fahren mit dem Grünlicht an, doch der Taxifahrer schert sich nicht um Verkehrsregeln, die auch in Mexiko durchaus gültig sind. Er schneidet uns von links und biegt nach rechts in eine Straße. Bernd fährt vorn und kann ausweichen. Kerstin schafft es nicht und kippt um, fast aus dem Stand. Sie schrammt Ellbogen und Knie auf und verspricht sich, ab jetzt nur noch mit Helm zu fahren.
Die Panamericana erklimmt die Hügel um das Tal von San Christobal. Im Gegensatz zur schroffen Seite, über die wir hineinkamen, wachsen hier lichte Pinienwälder auf den weichen Hängen.
Wegen Kerstins schmerzendem Knie beschließen wir, nach 40 Kilometern den Radtag zu beenden. Auf Sarahs Geburtstagsfest hatten wir den Besitzer der Ranch "La Granada" kennen gelernt. Kurz vor Amantenango sehen wir ein verstecktes Schild, das uns über einen Schotterweg, der eigentlich ein ausgeschwemmtes Bachbett ist, zu dem Pferdehof weist. "La Granada", das sind 230 Hektar Hügelland und ein Holzhaus, von dem man einen grandiosen Blick über das Tal des Töpferdorfes hat. Hinter dem Eisengatter empfängt uns eine keifende Hundemeute und dann Stephanie aus Frankreich. Sie ist etwa in unserem Alter. Während ihrer Mexikoreise hat sie vor zwei Jahren "La Granada" gefunden und sich sowohl in dieses Land verliebt, als auch in den Cherokee-Indianer Sam, der es versorgt. Seither versuchen sie gemeinsam, die Ranch am Leben zu erhalten. Eduardo, der Besitzer, kommt gelegentlich zu Besuch, sein Land scheint ihn nicht sonderlich zu interessieren.
Die Balken des Farmhauses sind rissig und wohl ein wenig schwach, doch die Bewohner lassen das Gebäude in Frieden. Statt unter elektrischem Licht sitzen sie abends neben Kerzen und wenn die Landarbeiter auf den umliegenden Feldern die Pflanzen wässern, versiegen die Wasserhähne in Küche und Bad. Die Räume, dunkel, weil durch die von der außen umlaufenden Veranda beschatteten Fenster nur gedämpftes Licht eintritt, und sparsam mit hölzernen Möbeln bestückt. Auf den Betten liegen Patchwork-Decken, der Rauchfang des gemauerten Kamins trägt eine Rußschicht. Als wir die Zwiebeln für die Abendspaghetti schneiden, schnurren Katzen auf der Arbeitsfläche und um unsere Hände.
Sehr professionell wird "La Granada" nicht geführt. Wir haben nur ein einziges Mal in San Christobal einen Hinweis hängen sehen, und wir sind die ersten Gäste seit Tagen. Doch Stephanie und Sam scheinen nicht viel Geld zu benötigen. Bei ihnen wohnt ein langhaariger Bartträger aus Kanada, der sich als Volontär bezeichnet, weil er hilft, Zäune zu reparieren und zum Lohn kostenlos auf der Farm wohnen darf. Wir fühlen uns wie in einer Hippie-Kommune und sehr wohl. Das Zelt steht auf der Weide, ein Bach gluckert hinunter zur Panamericana und die Pferde stelzen vorsichtig um unsere Fahrräder herum.
Am Morgen stiefelt Stephanie mit hochgekrempelten Latzhosen-Jeans über die Weide und sammelt Plastikmüll auf, den der Wind herbeigeweht hat. Sie bietet uns von ihrem Morgenkaffee an, Milch hat sie nicht.
Wir fahren weiter an Pinienhängen entlang. Die Straße macht nicht den Eindruck, als wolle sie in die versprochene Ebene um die Stadt Comitan übergehen. Nach zwei Stunden haben wir 500 weitere Höhenmeter erklommen und dann endlich beginnt eine Abfahrt in der unsere Beine ausruhen. Wir rollen aus den Bergen hinaus und fahren auf die Statue des berühmtesten Einwohners Comitans zu. Hinter der Bronze des Politikers und Freiheitshelden Belisario Dominguez liegen die Häuser der Stadt in der Sonne. Am Zentralplatz erklären zwei Polizisten, dass man um den Markt besonders billig und gut essen könne. Leider führen enge Treppen mit zahlreichen Stufen in die Halle und wir begnügen uns mit einem Comedor an einer Seitenstraße, in dem die Besitzerin Schweinegulasch über dem Feuer stehen hat.
Kerstin studiert den Stadtplan und erklärt, wir müssten auf der 8. Calle Sur Poniente zur Panamericana zurückfahren. Auf dem Papier sieht die Strasse niedlich aus, wie ein rascher Weg zum Ausgang der Stadt. Die Plan-Maler haben vergessen, darauf hinzuweisen, dass diese Calle geradewegs in eine Schlucht fällt, an deren Boden eine Strasse kreuzt und auf der anderen Seite genauso kompromisslos in den Himmel steigt. Wir verlassen Comitan als Fahrradschieber.
Kurz vor La Trinitaria fällt uns ein Eisentor auf, hinter dem sich ein bambusbeschatteter Weg zu einem rancho zieht. Wir haben keine Eile, müssen heute keine besondere Kilometerzahl erradeln. Es gibt also keinen Grund an solch einem schönen Flecken vorbeizuhasten. Bernd geht fragen, ob auf dem Land ein Plätzchen für Camper frei ist. Kein Problem, sagt der Besitzer. "Fahrt den Weg geradeaus weiter, dann kommt ihr an einen See, dort könnt ihr bleiben." Unter einem weit ausladenden Baum, vielleicht ist es eine Zeder, stellen wir unser Zelt an den Ufer des Teiches. Über uns geht der Vollmond auf. Von fern hören wir die nimmermüden VW-Käfer über die Panamericana brausen. Wir sind allein und lauschen einem vielmäuligen Tierkonzert. Dies ist die letzte Nacht in Mexiko, dem Land, das uns fast vier Monate beschäftigte, dessen Reize uns aufregten und mit dem wir noch lange nicht fertig sind.
Hinter Trinitaria erleben wir eine freudige Enttäuschung. In kilometerlangen Schleifen fahren wir aus dem Hochland von Chiapas hinaus. Von den schönen 2.100 Höhenmetern, auf die wir uns gemüht hatten, bleiben 500 übrig und vor uns belegt die guatemaltekische Berglandschaft die Breite des Horizonts. Wir fahren auf diese grüne Felswand zu und können beim besten Willen nicht erkennen, in welche Lücke uns die Strasse hineinführen will. Es sieht aus, als gäbe es keinen radelbaren Weg jenseits der Grenze.
Auf diesem letzten Stück Mexiko brennt uns die Sonne noch einmal mächtig auf die Köpfe. Wir wollen in Chamic Mittagspause machen, und weil man als braver deutscher Christ am Karfreitag kein Fleisch isst, schauen wir uns auf der Karte eines Fischrestaurants um. Die Preise sind uns deutlich zu hoch. Wir fahren weiter und halten an einem Straßenstand, unter dessen Dach aus Plastikplane zwei Frauen aufgeschnittene Hühner grillen. Sie haben auch Papayas im Angebot. Wir suchen uns eine der unterarmlangen Früchte aus und schneiden sie in essbare Stücke. Am Nachbartisch sitzen Männer. Sie trinken Bier, aber nicht pur. In jedes Glas schütten sie zuerst eine Mischung aus Tabasco-Sauce, Maggi und Limettensaft, zwei Finger breit. Dann geben sie Eiswürfel dazu und füllen die Gläser bis zum Rand mit Bier.
Sie lassen uns nicht entkommen. Zuerst müssen wir von dieser zungenbetäubenden Mischung trinken, dann stellen sie einen Teller mit gegrillten Schweinerippchen vor uns ab. Nachdem ihre bierfreundliche Gastlichkeit unsere christlichen Ideen innerhalb von Minuten lächerlich aussehen lässt, bestellen wir ein halbes Huhn und essen das zarte Fleisch aus fetttriefenden Tortillas.
Die 20 Kilometer zur Grenze ziehen sich und Tritt für Tritt wachsen die Berge Guatemalas. In Ciudad Cuauthemoc halten wir für eine kurze Rast an der Abfahrtsrampe der Busse. Gegenüber sitzt ein Uniformierter im Immigrationsbüro. Wir sind nicht sicher, ob wir ihn besuchen sollen, um unsere Pässe vorzuweisen. Zwei guatemaltekische Jugendliche, einer von ihnen hat ein nagelneues Mountainbike bei sich, fragen, woher wir kommen und wohin wir gehen werden. "In Guatemala geht es nur bergauf oder geradeaus. Es gibt fast keine Abfahrten. Man kann bei uns nicht radeln", sagt der eine. Er fügt unserem durch die Bergwand lädierten Selbstbewusstsein einen weiteren Knick zu. Nach La Mesilla, dem Grenzort des Nachbarlandes, seien es vier Kilometer. Bergauf natürlich.
Wir stellen uns vor, wie der Grenzbeamte dort unseren Pass nach einem Ausreisestempel durchblättert und uns dann nach Ciudad Cuauthemoc zurückschickt, um das Versäumte nachholen zu lassen. Nein, lieber gehen wir kein Risiko ein, sondern folgsam zum Immigrationsbüro. Der sehr korrekt wirkende Beamte überfliegt unsere zerfledderten Touristenkarten. Wir tun so, als seien wir soeben auf Geheimnisse an unseren Fingernägeln gestoßen. Kerstin erfindet ein paar interessierte Fragen zur vor uns liegenden Grenze. Schließlich legt er die Papiere beiseite und haut den Stempel in die Pässe. Der Mann versteht nicht, warum wir erleichtert gucken.
Die Touristenkarten hatten nämlich eine Korrektur von unserer Hand nötig gehabt. Als wir in Tijuana nach Mexiko einreisten, hatten wir den Grenzbeamten gebeten, uns die maximale Aufenthaltsdauer zu gewähren. Er hatte bedauernd die Schultern gezuckt: "Leider, leider, mehr als 90 Tage kann ich Euch nicht geben." Doch eine Verlängerung sei in jeder größeren Stadt problemlos, nach Entrichtung von weiteren 21 Dollar pro Nase würden wir sicher 90 Tage zusätzlich erhalten. Die kanadischen Freunde Etienne und Simon erzählten später, dass man ihnen am selben Grenzort umstandslos 180 Tage aufgeschrieben hatte. Wir beschlossen daraufhin, die Willkür der Uniformierten mit einer kleinen Fälschungsaktion zu rächen. Weil anschließend die Touristenkarten nicht wirklich original aussahen, waren wir unsicher, ob man uns ohne Schwierigkeiten ausreisen lassen würde. Doch vermutlich ist man in Mexiko an den Eskapaden radelnder Touristen nicht so interessiert, wie wir befürchteten.
In La Mesilla empfängt uns ein redseliger Grenzbeamter in weißem T-Shirt und Jeans. Sein Kollege schaut im Computer nach, ob unsere Namen vielleicht mal unangenehm aufgefallen sind, dann fällt auch hier der Stempel. Bevor wir gehen, tröstet der Grenzer: "Die ersten 200 Kilometer in Guatemala sind ein bisschen unangenehm, danach wird es leichter."
Wir verbringen eine ruhige Nacht in einem angeschimmelten Hotel. Der betont servile Rezeptionist und Chef der Zimmerschlüssel trägt ein T-Shirt, auf dem zu lesen steht, dass er Jesus liebt und von ihm geliebt wird. Zusammen mit der extradicken Goldkette am Handgelenk und seiner öligen Stimme ergibt es eine Mischung bei der uns gruselt. Wir sind nicht traurig, am Morgen an die Arbeit auf der Straße gehen zu dürfen. Bis zum Nachbarort La Democracia verlieren wir einige unserer wertvollen Höhenmeter, dann begleitet die Panamericana den Rio Selgua und kann sich an seiner Seite nicht allzu viele Eskapaden erlauben. Radlerfreundlich aber kontinuierlich gewinnt die Straße Höhe. Wir haben genügend Muße, uns die umliegenden Berge anzuschauen. Die Landschaft hat nicht mehr viel mit der mexikanischen Dürre zu schaffen. Das Gras steht im Saft, wir sehen Einödhöfe und Maisfelder an Hängen, die in Deutschland auch für Weingärten fast ein wenig zu steil wären.
Wir beschließen, nicht bis Huehuetenango durchzufahren und halten in einem Dorf. Kerstin fragt im ersten Laden, ob wir hinter dem Haus unser Zelt aufschlagen dürften. Es dauert ein wenig, bis der Besitzer begriffen hat, dass wir keineswegs unter seinem Dach schlafen wollen, sondern ein Zelt dabei haben und auch alles andere, um uns wohl zu fühlen. Zelten ist in Guatemala nicht üblich, und vor allem in Orten unbekannt, in denen die Bewohner alle Hände voll zu tun haben, sich am Leben zu erhalten.
Bernd macht einen Spaziergang durch den Ort, der, wie man uns erzählt, Santa Barbara heißt, um ein paar Dosen Bier aufzutreiben. Sonst sieht man an vielen Restaurants Blechschilder, die auf das Nationalbier "Gallo" hinweisen. In Santa Barbara kann man zwar Tomaten und Cola kaufen, Bier jedoch nicht. Diesen Versorgungsmangel werden wir in Guatemala öfter erleben.
Schnell haben sich um Kerstin, die damit beschäftigt ist, die Matratzen aufzublasen und das Zelt einzurichten, die Jugendlichen aus der Nachbarschaft versammelt. Allerdings sehen wir kaum einen Buben. Wir sind die Attraktion für die halbwüchsigen Mädchen. Fast alle tragen die bestickte Tracht der Indianer. Sie kichern sich Kommentare über uns in Mam zu, der Maya-Sprache dieser Region. Später trauen sie sich und fragen in sauberem Spanisch, ob wir verheiratet sind und ob Deutschland noch weiter von Guatemala entfernt sei als die Vereinigten Staaten. Als es dunkelt, setzt sich auch unsere Herbergsmutter zu uns. Sie ist besonders an dem Benzinkocher interessiert und nickt verständnisvoll, als wir erklären, wie wichtig das leichte Gerät für Radler ist. Ringsum zirpen Grillen, bellen angeleinte Hunde. Auf der gegenüberliegenden Talseite fackelt irgendjemand ein Waldstück ab. Alles normal in Guatemala.
Am Morgen bemerken wir nach dem Aufpacken, dass Kerstin ihre neue Liebe, den altgedienten weißen Radhelm, irgendwo in der Nähe des Hauses verloren haben muss. Wir suchen, finden ihn natürlich nicht. Vermutlich wird er künftig auf dem stolzen Kopf irgendeines Radlers aus Santa Barbara sitzen.
Die 14 Kilometer bis Huehuetenango machen uns keinen besonderen Spaß, und auch die Stadt, die erste richtige guatemaltekische Stadt, wirkt nicht sehr freundlich. Wir finden einen Bankomaten, der auch an Visa-Karten-Besitzer fremder Herkunft Geld ausgibt. Vom Ostersonntag bekommen wir nichts mehr mit, die letzte Prozession dieses Tages war bereits um neun Uhr morgens vorbei und die diesjährige Semana Santa ist damit Geschichte.
Wegen Bernds Erkältung beschließen wir, zwei Nächte zu bleiben und dann mit dem Bus die 80 Kilometer bis Xela (Quetzaltenango) zu überbrücken.
Guatemalas Busse gehören zu einer gesonderten Kategorie der Fortbewegung. Ursprünglich stammen fast alle aus den USA, wo sie von der "Blue Bird"-Companie zum Transport von Schulkindern gebaut wurden. So gelb, wie sie vom Fließband kamen, sieht man sie auf den Straßen hier kaum. Die neuen Eigner lassen sie mit wilden Farben bepinseln, die Muster könnten das Ergebnis von LSD-Trips sein. An den Windschutzscheiben kleben Sprüche: "Geschenk Gottes"; "Ich vertraue auf den Herrn"; "Gott führt mich". Die Fahrer trotzen mit stoischer Ruhe und Vollgas allen Widrigkeiten. Die Busse laufen auf vier Doppelreifen. Meist haben die Gummis wenig Profil, aber die Gefahr, das zwei im selben Moment platzen scheint gering. Mühen sich die Busse bergauf, ziehen sie eine schwarze Dieselrauchfahne hinter sich her, in der man sekundenlang den Blick für die Straße verliert. Doch die Karossen halten hunderttausende Kilometer auf guatemaltekischen Straßen aus. Das ist erstaunlich, weil sie bereits Generationen von us-amerikanischen Schulklassen befördert haben, bevor sie ins Land kommen. Hinter den grimmigen Kühlergittern hängen unverwüstliche Motoren und das Blech wird durch jede neue Schweißnaht eher gestärkt. Wir vertrauen ihnen.
Zwei Männer sind nötig, um einen der "Chicken-Busses" zu betreiben. Einer, klar, sitzt hinter dem Lenkrad. Der zweite hängt an der offenen Eingangstür, klettert auch während der Fahrt am Gepäckträger auf dem Dach herum und zurrt Kisten, Körbe und in Tuch eingeschlagene Ballen fest, turnt dann die Leiter an der Rückseite herunter und schwingt sich durch die Hintertür zwischen die Passagiere. In der Stadt springt dieser Mensch an jeder Kreuzung hinaus und gibt acht, dass kein anderer Verkehrsteilnehmer frech in den Kurs des Busses gerät, und er schreit fortwährend den Zielort: "Guateguateguateguuaateee", wenn's nach Guatemala Stadt gehen soll, oder "Schelaschelaschelascheelaaa" für Quetzaltenango. Er treibt auch den Fahrpreis ein und bedient sich dabei freizügig aus den Geldbeuteln der Gringos, die das Tarifsystem nicht kennen.
Wir haben mexikanische Vorstellungen im Kopf, als wir in Huehuetenango den Busbahnhof suchen. Wartesaal, Fahrkartenschalter, Sicherheitsleute mit Gewehren und ein Fahrplan, so ähnlich dürfte er aussehen, der Bahnhof. Auf dem sandigen Platz haben wir kaum Zeit, den Öllachen und Abwasserteichen auszuweichen. "Wo wollt ihr hin? Ach Xela. Ja, dort lang, dieser Bus." Zehn oder vierzehn Hände ruckeln an unseren Radtaschen. Kaum haben wir die Gepäckrollen gelöst, liegen sie auf dem Busdach. Einer reicht seinem Kollegen das erste Rad hinauf. Wir hören, wie oben Metall hässlich auf Metall trifft. "Einsteigen, es geht los."
Über dem Fahrer baumelt das Bild der Madonna von Guadalupe und daneben ist ein Schild festgenietet: "The safety of your children is our business." Das war einmal. Hier heißt das Geschäft, so viele Passagiere wie möglich so schnell wie der Bus fährt zum Ziel zu bringen. Ein Mann quetscht sich neben uns auf die Sitzbank, die für zwei Personen konzipiert wurde. Minuten später ist er eingeschlafen. Sein Kopf trommelt die Frequenz der Schlaglöcher an Bernds Schulter.
Die Panamericana verliert auf dem Weg zum dreitausendsten Höhenmeter zwischendurch den Asphalt, aber die Aussicht auf die Bergdörfer bleibt berauschend. Irgendwann auf dieser fast dreißig Kilometer langen Steigung sehen wir einen bepackten Radler strampeln. Er sieht angestrengt aus und wir glauben einen Augenblick, es uns zu leicht gemacht zu haben.
In Xela, als unsere Räder, praktisch nicht lädiert und wieder bepackt, endlich neben uns stehen, hocken wir uns vor ein Fahrradgeschäft und schauen der Rangierarbeit der Busse zu. Was zunächst sehr wirr ausschaut, folgt durchaus einem System, merken wir, auch wenn sich die Fahrer mit den pressluftbetriebenen Mehrklanghupen und die fliegenden Händlern mit ihren schrillen Stimmen bemühen, die Ordnung zu verbergen.
Für diese Stadt empfiehlt unser Reiseführer das "Casa Argentina" als beste der billigen Unterkünfte. Wir ruckeln auf dem Kieselsteinpflaster Richtung Innenstadt. In der Diagonal 12 suchen wir nach dem Haus und dabei unterschätzt Bernd die Breite seiner Vordertaschen und bleibt an einem Eisenstück hängen, das aus dem Bürgersteig ragt. Der Ellenbogen und das Knie bremsen den Sturz.
Die Herberge, sie ist so begehrt, dass sie an der Fassade mit einem handgroßen Schild auskommt, bietet uns ein Zimmer mit großem Fenster und ein Fernsehgerät, in dem auf zwei Kanälen ausschließlich Kinofilme gesendet werden. Im Casa Argentina wohnen Rucksackis und Volontäre. Die sind unter den Reisenden eine spezielle Gattung, weil sie ohne Lohn wochen- oder monatsweise bei sozialen Einrichtungen arbeiten. Sie tragen die Gewissheit, besonders engagiert zu sein, und betrachten sich mit anderen Augen als den Rest der Touristen, die ganz hedonistisch nur zum Vergnügen unterwegs sind. Die meisten Volontäre sind Vegetarier und sehr betroffen über die Armut in Guatemala.
Beim ersten Spaziergang durch Xela umrunden wir den Zentralplatz. Wie sein Bruder in Huehuetenango ist er von klotziger Architektur eingerahmt. Beiden geht die Leichtigkeit der Zocalos in Mexiko ab.
Später legen wir uns zu einem Fernsehabend ins Bett. Während des zweiten Films fällt der Strom aus, wie er es jeden Abend zu tun pflegt. Vom Balkon sehen wir, dass die gesamte Stadt betroffen ist. Nur eine Fabrik ist noch beleuchtet. Vielleicht ist sie das Kraftwerk, in dem die Elektriker gerade am Kabelsystem basteln.
Am Morgen begegnen wir dem Radler, den wir während der Busfahrt an der Steigung schnaufen sahen. Ivo kommt aus Bern und startete in Mexiko Stadt. Er ist ein bisschen überrascht, von uns mit Fragen überfallen zu werden, aber wir haben seit längerer Zeit keinen Radler mehr zu Gesicht bekommen.
In einem der Häuser um den Zentralplatz ist das Kunstmuseum untergebracht. Wir betreten den Innenhof. Er sieht sehr nach Komplettsanierung aus. Hinter einer Tür im ersten Stockwerk finden wir einen Raum, der mit Bildern und Skulpturen zugestellt ist. Am besten gefällt uns die Nachlässigkeit, mit der die Museumsmacher die Kunst behandeln. Sie lässt sich stapeln und zusammenschieben, Ehrfurcht ist unnötig. Das Atelier von Rodrigo Diaz nebenan ist ebenso groß wie der Museumsraum und ebenso vollgestopft. Der Maler winkt uns hinein, hat jedoch eigentlich keine Zeit, sich zu unterhalten. Am Fenster sitzen zwei Mädchen an Buntstiftzeichnungen. Er gibt Unterricht. Rodrigo stellt oft in Europa aus, seine wichtigsten Kunden wohnen in der Schweiz. Eine Familie stellt ihm dort stets ein Haus in den Bergen zur Verfügung. Die Situation für Maler ist schwierig in Guatemala, sagt Rodrigo: Zu wenige Galerien, zu wenige Käufer und zu wenig Interesse an einer nationalen Kunstszene.
Wir wollen den ersten Vulkan unseres Lebens besteigen und haben uns die Laguna Chicabal ausgesucht. Sie liegt im Gipfel eines Vulkanchens, das für unsere, dem Gehen entwöhnten Beine gerade die richtige Höhe hat. Die Busfahrt nach San Martin Chile Verde dauert eine Stunde. Wir folgen dem Wegweiser bergauf und als wir uns auf halber Strecke umschauen, sehen wir das Dorf im Tal liegen. Das Bild erinnert an eine tiefe Salatschüssel. Am Boden stehen die Häuser und seitwärts ziehen sich Maisfelder fast bis zum Rand der Hänge hinauf. Auf manchen dieser Lehmflicken sind grüne Punkte in Reihen angeordnet. Jede einzelne Pflanze wird täglich sorgsam gegossen. Ohne künstliche Bewässerung würde hier nur Lehmstaub gedeihen, der die Konsistenz von Hautpulver hat. Wir sehen ihn, vermischt mit Rotz, aus den Nasenlöchern der Kinder rinnen, dunkelgraue Spuren auf ihrer Haut.
In Chile Verde tragen viele Männer Tracht. Weiße Tuniken, die bis zur Hälfte der Unterschenkel reichen. Sie sind an den Armen rot bestickt und werden von einem roten Tuch zusammengehalten, das wie ein Gürtel um den Bauch geschlungen ist. Die fransigen Enden flattern beim Gehen über dem Hintern und in der Bewegung sieht man auch rote, halblange Hosen unter den Hemden hervorspitzeln. Dazu ziehen sie Tennissocken und derbe Stiefel an. Auf dem Kopf sitzt ein heller geflochtener Sombrero. Die Männer sehen wie Gnome aus. Doch neben den Frauen in ihren hundertbunten Blusen und den knöchellangen Wickelröcken geben sie ein gutes Bild ab.
Dann stehen wir am Rand des Vulkankraters und unter uns liegt der See. Aus den Seitentälern schweben weiße Wolkenfetzen heran. Sie spielen im Sonnenlicht. Die Wärme formt die Wolken zu Watteskulpturen, verschiebt sie, bildet neue Phantasiefiguren. Mehr als 600 Stufen klettern wir ans Ufer der Laguna hinab, die für die Maya ein heiliger Ort ist.
Unten steht ein Priester, der mit einer Holzstange in seinem Feuerchen rührt und fast ohne Atem zu holen ein einstündiges Gebet an "papalito lindo", "schönes Väterchen" richtet. Zuerst wirft er Kräuter und Holz in die Flammen, dann Reis und schließlich Kerzenbündel. Es sind die dünnen Kerzchen zu 25 Centavos das Stück, die wir selbst mal in der Kathedrale von Xela gekauft hatten.
Der Priester, er trägt ein Tuch um den Kopf, Kniebundhosen im Militärstil, ein rotes Hemd und am Gürtel Feldflasche und Messer, wirft jeweils Bündel von 13 Kerzen ins Feuer, zwanzigmal hintereinander. Später erklärt er, die Zahl 13 repräsentiert die Zahl der Grade, die sich der Mond täglich vorwärts bewegt, und jedem der 20 Tage des Mayakalenders gilt ein Opfer. Die Kerzenfarben haben symbolischen Charakter. Weiß ist die Reinheit, grün die Arbeit, gelb der Schutz, blau der Himmel und das Wasser und rot die Liebe. Der Priester betet gegen die schlechten Gedanken der Menschen, für erfolgreiche Arbeit, gegen Krankheit und für eine friedliche Lösung des Konfliktes zwischen den Brüdern in Israel, den Israelis und den Palästinensern.
In Guatemala existieren mehr als 260 der Altäre, wie die Laguna Chicabal einer ist. Nur Priester dürfen die Zeremonie an den heiligen Orten durchführen. Nach dieser kleinen Wanderung fühlen wir heftigen Muskelkater in unseren Beinen. Vielleicht sollten Radler beim Radeln bleiben.