Guatemalas Farben halten Markttag
15. Reisebericht vom 15. April 2002 Quetzaltenango - Antigua Guatemala
Auf den elf Kilometern von Xela nach Quatro Caminos, dem Ort in den Bergen, an dem sich
vier wichtige Carreteras des Landes treffen, müssen wir unseren Platz am Straßenrand
verteidigen. Richtung Atitlánsee wird die Straße komfortabler, man hat an beiden
Seiten einen geteerten Streifen für Fußgänger und Radfahrer angelegt. Vor der
Abfahrt hatten wir einen Blick in das Lateinamerika-Bike-Buch des Ehepaars Wiegers aus dem
Reise-Know-How-Verlag getan. Clemens Carle, der das Guatemala-Kapitel geschrieben hat, berichtet
von der höchsten Stelle der Panamericana in Mittelamerika, die innerhalb der 31 Kilometer
bis Nahualá zu überwinden sei. Er sagt, sie sei 3.670 Meter hoch, und da auch die
in Kanada gedruckte "International Travel Map" diese Zahl angibt, haben wir uns auf
eine ordentliche Strampelei eingerichtet. Wir finden es seltsam, dass auch nach 20 Kilometern
von einer erheblichen Steigung nichts zu spüren ist. Zwei Polizisten halten, als wir eine
Trinkpause machen. Sie füttern uns mit Erdnüssen. Wir fragen, wann das steile Stück
beginnt. Sie schauen uns verwundert an und sagen, dass wir in zwei Kilometern oben seien. Danach
würde es weit hinunter gehen.
Kerstins Höhenmesser zeigt an der Kuppe wenig über 3.000 Meter und wir wissen sicher,
dass wir von Xela aus höchstens 700 Bergmeter gefahren sind. Der Fehler ärgert uns.
Es wäre zwar unangenehmer gewesen, wenn Carle mit seinen Angaben unter der Realität
geblieben wäre, doch wir bezweifeln, dass er dieses Stück mit dem Fahrrad gefahren
ist, denn auch ohne Altimeter muss auffallen, dass dem Berg 600 Meter fehlen. Wie viel Glauben
dürfen wir seinen anderen Beschreibungen schenken?
Die Abfahrt verlangt Konzentration, weil die Arbeiter alle paar hundert Meter Stufen in der
Straßendecke haben stehen lassen. Hinter Nahualá schmiegt sich die Strasse in
die Flanke eines lang gezogenen Berges und folgt seinen Einschnitten hinauf und hinunter. Wir
erreichen das Dorf Pacoxom spät, weil zwei Speichenbrüche an Bernds Hinterrad Zeit
gefressen haben. Der Hügel, den wir hinter den Häusern erahnen, sieht nicht sehr
einladend aus und Kerstin beschließt, bei den Kirchen um Nachtlager zu bitten. Die Nachbarn
der Pentecoast-Kirche weisen sie zum Haus des Pastors, doch der Mann ist unterwegs, und weder
Frau noch Sohn wollen eine Entscheidung treffen. Sie schlagen vor, dass wir es bei der größten
der vier evangelischen Kirchen versuchen sollten. Neben dem Gebäude liegt eine Schreinerei,
vor der ein alter zahnloser Indianer im braunen Trachtenrock steht. Als er sich umdreht, sehen
wir seine faltigen Beine durch die Löcher im Tuch. Auch seine Frau, ebenso zahnlos und
grau wie er, versteht nicht besser, was wir wollen. Sie sprechen unter sich ausschließlich
K'iche-Maya. Sie rufen ihren Enkel, der uns mit einer Handbewegung zur Geduld bittet, weil
er zuerst seinen Cousin holen will.
Ein Mann mit weißem Hemd und Bügelfaltenhose kommt auf uns zu. Wir erklären,
dass wir nur ein wenig Platz für unser Zelt brauchen und bestimmt keine Umstände
machen werden. Er zieht einen Schlüssel aus der Tasche und sperrt die Tür zum Gemeindehaus
auf. "Das Haus steht leer, wir haben ein paar Betten hier und wenn ihr wollt, könnt
ihr gern die Küche benutzen." Wir sind sprachlos und wollen zunächst abwehren,
doch der Mann lässt sich nicht beirren, sondern beginnt, ein paar Bänke zur Seite
zu räumen. Er zieht aus dem Nebenraum zwei Klappbetten. Inzwischen haben sich Kinder,
Jugendliche und einige Erwachsene versammelt, sie schauen vorsichtig, und beginnen dann, unsere
Ausrüstung zu erkunden. Kerstin geht, ein paar Tomaten für die Nudelsauce zu kaufen.
Catarina, ein sechsjähriges Mädchen, begleitet sie und ruft ununterbrochen: "Christina,
Christina."
Wir bedauern, keine Weltkarte dabei zu haben, denn es ist ziemlich schwierig, zu erklären,
wo Deutschland liegt. Ob es bei uns daheim Milpas, Maisfelder, gibt, wollen unsere Gastgeber
wissen. Wie viel ein Arbeiter verdient, was in Deutschland produziert wird und wie viel die
Fahrräder gekostet haben. Wir lernen ein paar Worte auf K'iche: Tomate heißt pix
(gesprochen: pisch), Holz heißt zalam und erucha ist ein Hund. Die Kinder lachen, als
wir versuchen, sie richtig auszusprechen.
Bernd bietet dem Mann mit den Schlüsseln eine Zigarette an, doch der wehrt ab: "Ich
rauche nicht, ich bin Christ." Als unsere Nudeln gar sind, verabschieden sich die Erwachsenen
und wenig später auch die Kinder. Eine Nachbarin bringt Tamales vorbei. Wir kennen sie
schon aus Mexiko. Dort wird der Maisteig mit Huhn oder anderem Fleisch gefüllt, in ein
Bananenblatt eingeschlagen und gedämpft. Hier besteht das Tamal nur aus heißem Maisteig,
der in ein Maisblatt gewickelt ist. Ohne Sauce schmeckt es ziemlich trocken und fad. "Damit
ihr seht, was wir jeden Tag essen", sagt die energische junge Frau.
Wir sind allein und setzen uns auf die Eingangsstufen des Gemeindehauses, um den Sternenhimmel
über den Bergen anzuschauen. Der alte Schreiner schlurft heran. Er trägt eine Taschenlampe
bei sich. "Ihr braucht keine Angst zu haben, denn der Herr dort oben wacht über uns",
sagt er, und bei diesen Worten klingt sein Spanisch gar nicht holprig. Der Abendsegen des Mannes
gibt uns ein warmes Gefühl und wir schlafen wunderprächtig.
Bis zur Abzweigung nach Solola und zum Atitlánsee wellt sich die Straße noch ein
wenig, doch nach der Stadt beginnt die rasanteste Abfahrt, die wir je erlebt haben. Wir müssen
auf etwa sechs Kilometern 630 Höhenmeter hinunter. An uns rauschen Radler vorbei. Sie
kennen die Strecke und ihre engen Kurven. Wir schleichen lieber, denken an das Zentnergepäck,
und wie es uns über den Rand werfen würde, wenn wir die Kontrolle verlieren. Kerstins
Hinterrad hält dem Zug der Bremsen nicht stand. Wir hören das vertraute "Pling"
einer brechenden Speiche. Wir hatten diese Art der Pannen stets für eine Spezialität
von Bernd gehalten, dessen höheres Körpergewicht das Metall stärker strapaziert.
Während der Reparatur schauen wir hinunter auf den Atitlánsee, den die Reiseführer
den schönsten See der Welt nennen. So unrecht haben sie damit nicht, sagen wir, obwohl
wir längst nicht alle schönen Seen der Welt kennen. Hinter dem gegenüberliegenden
Ufer ragen die Vulkane Atitlán und San Pedro, sie sind begleitet von anderen Bergen,
die ihnen nur bis zur Schulter reichen.
Am Eingang von Panajachel steht ein Polizeiposten. Vermutlich soll die bewaffnete Staatsmacht
den Touristen suggerieren, sie seien im Seeort vor kriminellen Einheimischen geschützt.
Auch sonst hat sich das Dorf über die Jahre zu einer Touristenbefriedigungsmaschine verwandelt.
In der Calle Santander belegen Restaurants, Souvenirläden, Cafés und Hotels alle
Hausfronten. Keine Mauer, an der nicht das gewebte Tuch der Maya hängt, kein Pfosten,
an dem nicht ein Schild für Touren nach Tikal oder den Markt in Chichicastenango wirbt.
Zu schwach, die Einkäufe allein heimzuschleppen? Kein Problem, Paketagenturen verschiffen
die Waren gern auch nach Übersee. Selbst für Menschen, die gar nicht nach Panajachel
kommen, ist gesorgt. Ein Service übernimmt nicht nur den Versand, sondern auch den Einkauf
der Souvenirs. Das ist die Krönung des Ökotourismus. Das darbende Kunsthandwerk macht
Umsätze, ohne dass das Land die schmutzenden Touristen erleiden muss.
Panajachel soll ohne uns auskommen, denken wir und fahren zum Ortsausgang, wo Michael O'Sullivan
seinen "Campana"-Campground betreibt. Hinter einem Brettertor verbirgt sich ein lauschiges
Landstück. Die fast ebene Wiese geht in einen Hang über, ein paar Bäume stehen
herum und ein weiteres Zelt. "Ich habe diesen Platz so eingerichtet, wie ich ihn selbst
als Reisender gern finden würde", sagt Michael. Da steht an erster Stelle die Sicherheit,
dann saubere Duschen und eine Küche, in der die Gäste frei werkeln dürfen. In
diesem Punkt denkt er ganz wie ein US-Amerikaner, obwohl er sich als Iren bezeichnet. Michael
war nie in Europa. Das ist nur eine seiner Schrullen. Michael ist ein Beobachter der Zeitalter
und hat besonders das kommende im Blick. Es steht, sagt er, im Zeichen des Wassermanns, und
wird die Menschen erheblich verändern. Vermutlich ist das Internet ein Schritt in die
Richtung einer erweiterten Kommunikation, aber am Ende wird jede Diskussion aufhören,
weil die Menschen telepathisch miteinander verkehren und wissen, anstatt die Dinge nur zu vermuten.
Mit diesen Ideen füllt Michael unsere Gespräche, denn neben seinen Pflichten als
Campingplatzbesitzer, hat er die Aufgabe, eine Brücke zu sein und möglichst vielen
Menschen zu einem gelungenen Start in das Wassermann-Zeitalter zu helfen. Daneben zeichnet
Michael eine extrem sensible Menschenkenntnis aus, die uns ebenso erstaunt wie seine Biografie.
Er wurde von seiner irischen Mutter in Hawaii zur Welt gebracht und zur Adoption freigegeben.
Er wuchs in Texas auf und arbeitete bis zu seinem 38. Lebensjahr als Chef eines Unternehmens,
das sich um die Verwertung von Gold- und Silberminen, der Abholzung von Wald und die Verwaltung
von Immobilien kümmerte. Er verkaufte seine Anteile, unter Wert, wie er sagt, und begann,
in einem Camper durch die Welt zu gondeln. In Panajachel blieb er hängen, versuchte es
mit verschiedenen Geschäften und kaufte schließlich das Land, auf dem er den Campingplatz
einrichtete. In dem Haus, das Michael ursprünglich für sich baute, lebt jetzt eine
guatemaltekische Familie, die den Platz betreut, wenn Michael aushäusig ist. Er selbst
begnügt sich mit einem altersschwachen Wohnwagen und damit, seine Gäste daraufhin
anzuschauen, ob sie transzendentale Fähigkeiten haben, die er wecken könnte. Michael
trägt ausgewaschene T-Shirts, einen grauen Dreitagebart und er wedelt beim Reden ausschweifend
mit den Armen, als müsste er sich permanent versichern, dass seine Aura nicht abhanden
gekommen ist. Dieser verschrobene Mann verbreitet eine Ruhe, in der wir uns heimisch fühlen.
Es werden faule Tage in Panajachel. Wir radeln ein wenig an der Uferstraße entlang in
die Nachbardörfer, fahren im Boot über den See, gehen auf den erstaunlich originalen
Markt, um die Zutaten fürs Kochen am Abend einzukaufen und lesen stundenlang am Tisch
in der Freiluftküche. Eines Tages, wir sind wieder mit dem Rad unterwegs, hält ein
Mann mit orientalischer Woll-Zipfelmütze Kerstin an. Der Holländer Dick Verschuur
und seine Frau Els Schaap sind seit drei Jahren auf dem Rad unterwegs. Sie sind von Holland
nach Timbuktu gefahren und von Ushuaia Richtung Alaska unterwegs. Sie haben eine Menge Tipps
auf Lager und interessante Geschichten zu erzählen. Wir verabreden uns auf ein Bier und
unterhalten uns zwei Stunden lang. Einen Tag später treffen wir die beiden wieder, und
als es zu tröpfeln beginnt, flüchten wir in ein Café. Die Themen gehen uns
nicht aus. Viel später schaut Bernd aus dem Fenster und sieht Etienne, unseren Freund
aus Quebec, und seinen Stiefvater die Straße entlanggehen. Wieder mal ein unerwartetes
Treffen, wie es zwischen uns und Etienne Standard geworden ist. Die beiden setzen sich zu uns.
Denis Vincent begleitet Etienne für einen Monat zwischen Oaxaca und Guatemala Stadt. Er
ist 52 Jahre alt und hat nie zuvor eine solch lange Radtour gemacht. Er sagt, zwischendurch
seien ihm die Etappen schwer gefallen, doch er findet jeden Tag spannend und ist beeindruckt
von der Umsicht, mit der Etienne reist. Denis hat in diesen Wochen einen neuen Sohn kennen
gelernt.
Wir laden die vier Radler ein, am nächsten Abend zu einer Portion Spaghetti Bolognese
auf den Campingplatz zu kommen. Wenige Minuten vor sechs Uhr klingelt es an der Pforte. Draußen
steht Ivo, der Schweizer, den wir in Xela getroffen haben. Er radelte auf Panajachel zu, als
ein Bus neben ihm hielt, aus dem ein Holländer mit Zipfelmütze sprang. Dick erklärte
ihm, wo sich die Radler treffen. Später kommen Denis und Etienne. Sie bringen einen Japaner
mit. Um sein Kinn wuchert ein dünner Bart, er steckt in Militärklamotten. Tashiki
(?) radelt anders als wir alle. Er ist vor sieben Jahren aufgebrochen und spricht weder ausreichend
Englisch noch einen zusammenhängenden Satz auf Spanisch. Nach der Durchquerung von Asien,
Afrika und Europa hat er sich in Argentinien auf den Weg Richtung Norden gemacht. Mittelamerika
hat er in einem Rutsch erledigt und dann legte er eine einmonatige Pause am Lago Atitlán
ein. Seine Beteiligung am Gespräch beschränkt sich auf wieherndes Lachen. Beim Abschied
sagt er zu Kerstin und Bernd: "Guten Appetit" und "Gute Reise". Das sind
seine Sprachmitbringsel von der Etappe durch Deutschland. Sein Trip soll neun Jahre dauern.
Das Geld hat er in 24 Monaten gespart. Er arbeitete als Akupunkteur.
Wir quatschen bis in die Nacht, alle haben Geschichten auf Lager, die niemals langweilig werden,
weil sie Facetten derselben Perspektive sind, Erlebnisse vom Rand der Straße eben.
Die buntesten Stellen im Alltag Guatemalas sind die Märkte, die in fast jeder Stadt abgehalten
werden. Der berühmteste findet in Chichicastenango statt. Dort treffen Tausende Händlerinnen
und Händler zahlungskräftige Touristen, die angelockt worden sind vom Versprechen
der Reiseführer, an diesem Ort ein einmaliges Farbspektakel, ein Gewusel aus Indianertrachten
und Waren zu erleben. Wir entscheiden uns für den Markt in Sololá, der vielleicht
kleiner ist als der in Chichicastenango, aber bestimmt weniger anstrengend, weil die Tuchverkäuferinnen
nicht ganz so hartnäckig auf ihren Angeboten bestehen.
Über dem Platz um das Rathaus sind Planen gespannt. Darunter sitzen die Indianerinnen
hinter Körben, in denen sie die Früchte ihrer Felder gestapelt haben. Kartoffeln,
Tomaten, Gurken, Knoblauch, Karotten. Mangos duften süß, weil beim Transport Früchte
zerquetscht werden und das Mark aus den geplatzten Schalen tropft.
Wir verstehen längst nicht alles, was wir sehen, obwohl wir versuchen, so viel Unbekanntes
wie möglich zu probieren. Eine Marktfrau hatte uns erklärt, wie man die grünen
Chayote zubereitet, ein Gemüse, das ähnlich wie Kohlrabi schmeckt. Doch was tut
man mit den winzigen getrockneten Fischen, die so stechend riechen?
Zwischen den Ständen sind schulterbreite Gassen frei, in denen sich Frauen mit mühlradgroßen
Körben auf den Köpfen an Lastenträgern vorbeidrängen. Jemand preist kreischend
seine Armbanduhren an, ein anderer will Limetten loswerden, das Beutelchen zu einem Quetzal.
An einem Stand mit Petersilie, Pfefferminz, Thymian und Oregano steht eine Gruppe Indianerinnen.
Die Frauen betasten die Qualität der Kräuterbündel. Sie lachen und plappern
durcheinander. Ihre Einkäufe beulen die Umschlagtücher aus. Sie tragen dieselben
Textilien, die wir an den Tuchständen angeboten bekommen. Handgewebte Stücke, deren
Preis vor dem Handeln mit 350 Quetzales angegeben wird. Wir fühlen Fadenstärken,
ertrinken in Farben und kehren zu den Gemüseverkäuferinnen zurück.
Dort arbeitet man mit dem ganzen Körper. An einer Brust hängt ein Säugling.
Die Frau schiebt den soeben eingenommenen Schein in die andere Seite ihres Ausschnitts. "Tomaten?
Zwei Quetzales das libra (Pfund). Wollen Sie?" Und schon greift sie hinein zwischen die
roten Früchte. Hält mit links eine selbstgebaute Waage aus zwei Plastikschüsselchen,
die an einem Holzstecken hängen. Sie gibt ein wenig mehr, als es das libra-Bleistück
verlangen würde, verknotet den Plastikbeutel und streckt die Rechte nach den Münzen
aus. Dann ruft die Standnachbarin eine Bemerkung herüber, die ihre Aufmerksamkeit erfordert.
Sie lachen gemeinsam und sind in der Öffentlichkeit ganz privat. Das geht so vor und hinter
uns, wir lassen uns hineinziehen und nach anderthalb Stunden sind Augen, Nasen und Ohren erschöpft.
Sie brauchen den halben Tag, um den Markt, den Ort, in dem Guatemala sich ganz zeigt, zu verarbeiten.
Der Weg nach Panajachel hat uns mit seiner Steilheit so beeindruckt, dass wir für die
andere Richtung einen Bus nehmen. Wir könnten die Kilometer schieben, doch der Sinn, damit
zwei oder drei anstrengende Stunden zu verbringen, leuchtet uns nicht wirklich ein. In Los
Enquentros stehen wir nach einer halben Stunde wieder auf der Panamericana, die sich nun aufmacht,
eine Landschaft zu durchqueren, die wie aus den Südtiroler Alpen geschnitten wirkt. Nach
der Pause am See genießen wir es, unsere Beine zu spüren. Viele der Häuschen
sind aus Bohlen gezimmert, wir erkennen in ihnen Almhütten. Nebenan weiden schwarzweiße
Rinder.
In Tecpan machen wir Mittag und fragen uns, ob wir unbedingt an diesem Tag bis Antigua durchfahren
müssen. Die Ruinen von Iximche liegen so nah, und uns treibt nichts, wenn wir es nicht
selbst tun. Puro plan und todo parejo, also maximal gerade sollen die sechs Kilometer bis zu
den Pyramiden sein, heißt es, und natürlich müssen wir ein paar steile Stücke
bewältigen, bis wir am Eingang des archäologischen Parks stehen. Vielleicht sollten
wir künftig darauf verzichten, Kellnerinnen nach ihrer Meinung zu Straßen zu fragen.
Halb vier zeigt die Uhr, als uns der Wächter die Eintrittskarten verkauft. Bis halb fünf
haben wir Zeit, dann wird das Tor geschlossen. Die Ruinen liegen in einem Wald. Vermutlich
scheinen sie Experten wenig spektakulär, weil die Pyramiden eher klein sind. Doch die
Stimmung fesselt. Außer uns steigen einige Indianerfamilien zwischen den Steinen herum.
Auf einigen der antiken Hügel sind stämmige Bäume gewachsen, Vögel pfeifen
aus den Zweigen, sonst liegt der Park still unter der Nachmittagssonne.
Wir führen einen netten Gedanken im Kopf. Ob wir hier wohl zelten dürfen? "Ich
bin nur der Wächter und kann das nicht entscheiden", sagt der Wächter. Und dann
bringt er uns ein neues Wort bei: Der encargado, der Beauftragte, wohnt dort vorn hinter dem
Laden, in dem Coca und Chips an die Besucher verkauft werden. "Wenn er einverstanden ist,
gibt es wohl keine Probleme." Wir laufen zu dem Kiosk. Ein Indianermädchen schaut
aus dem Fenster: "Leider, der encargado ist nicht zu Hause, aber er kommt am Abend zurück,
vielleicht gegen fünf Uhr, vielleicht um sechs."
Folgsam lassen wir uns aus dem Park sperren und setzen uns an die Straße, um auf den
Beauftragten zu warten. Er kommt nicht. Statt dessen ziehen Wolken auf, die Sonne macht sich
davon. Was ist, wenn der Mann uns das Zelten verwehrt? Auf dem Weg haben wir einen netten rancho
gesehen. Lustlos fahren wir davon, eine Nacht zwischen der steingewordenen Geschichte Guatemalas
wäre ein Traum gewesen.
Auf der finca am Rand von Tecpan empfängt uns der Vorarbeiter Josef. Neben ihm steht Vilma,
seine Frau. "Correcto, correcto, Ihr könntet schon hier auf der Weide schlafen, aber
ich kann das nicht entscheiden, fragt den encargado. Er wohnt auf der anderen Straßenseite
in der Bäckerei", sagt Josef.
Diesmal haben wir Glück. Unter der Auflage, kein Feuer anzuzünden, gestattet uns
der Beauftragte eine Nacht auf der finca. Josef holt einen Rechen und beginnt, einen Platz
unter einem Baum von getrockneter Kuhscheiße freizumachen. Er und seine Frau und alle
vier Kinder staunen über das Zelt, dann wünschen sie uns eine gute Nacht. Nachts
treibt sich ein Hund um uns herum, er bellt, als ob er uns durch die Plane hindurch fressen
wollte.
Morgentoilette an der Zisterne. Während Kerstin ihr Gesicht wäscht, schreitet ein
massiger Bulle näher. Er zieht einen Buben an einem Strick hinter sich her, beäugt
uns kurz und trinkt dann mit mächtigen Zügen aus unserem Zahnputzwasser.
Knapp 60 Kilometer später nimmt uns die Kolonialarchitektur der alten Hauptstadt Antigua
Guatemala freundlich auf. Beim ersten Rundgang erschrecken wir, denn es scheint, als ob die
ehrwürdigen Häuser entkernt wurden, um ganz an die Bedürfnisse der Touristen
angepasst zu sein. Souvenirläden neben Restaurants neben Internetcafés, es scheint,
als ob dem Städtchen überm Geldverdienen das eigene Leben verloren gegangen wäre.
Später merken wir, dass es sich nur aus dem Stadtzentrum zurückgezogen hat. Sogar
den Hauptplatz lernen wir schätzen. Er ist eingefasst von holzgestützten Arkaden,
in seiner Mitte sprudelt ein Zierbrunnen. Speziell an den Abenden der Wochentage, wenn sich
die Wochenend-Ausflügler aus der Hauptstadt verzogen haben und das Leben leiser wird,
entsteht hier die Vibration einer Kleinstadt. Antigua ist ein Ort, in dem wir es gern anderthalb
Wochen aushalten wollen. Abends sitzen wir auf der Dachterrasse des Hotels und schauen hinüber
zum Vulkan El Fuego. Aus seiner Flanke quillt rot glühende Lava, die Erde blutet. Der
Strom verzweigt sich und rinnt in leuchtenden Streifen am Berg hinunter. Wir spüren zwar
nicht, dass sich der Boden bewegt, aber hier sehen wir zum ersten Mal den Beweis.
In Antigua müssen wir auf ein Päcken warten, in dem unser Notebook zu uns zurückkehren
soll. Wir sind gespannt, auf wie viele Akte das Drama um ein Paket aus Europa anwachsen wird,
denn dass wir es ohne Probleme in Empfang nehmen können, glauben wir nicht.
Auf der Homepage von Fedex sehen wir den Weg, den unser Notebook genommen hat, die Einträge
sind beeindruckend und bedrohlich zugleich. Garching ist die erste Station. Wenige Stunden
später landete es in Memphis, von dort flog es nach Guatemala Stadt. So weit, so schnell
und gut. Doch dann: "Verzögerte Abfertigung beim Zoll."
Wir telefonieren mit Fedex. Eine Dame gibt uns die Nummer des Zollamts, doch dort kann uns
niemand weiterhelfen oder auch nur erklären, wo es hakt. Wieder also Fedex. Sie wollen
die Nummer unseres Hotels und versprechen, am nächsten Tag anzurufen. Tatsächlich
klingelt um 10 Uhr morgens das Telefon. Ein Fedex-Mann namens Nicholas sagt, er brauche unsere
Pässe, um das Paket frei zu bekommen. Wir besteigen den Bus in die Hauptstadt und nach
einer kurzen Irrfahrt durch den Moloch finden wir die Niederlassung des Paketdienstes in einer
Wohnsiedlung nahe am Flughafen. Nicholas wird unser Retter und er bringt uns die Bedeutung
des Wortes aduana (Zoll) bei. Gemeinsam gehen wir zur eingezäunten und bewachten Baracke,
in der unser Paket verwahrt liegt. Ein Bote nimmt die Angelegenheit in die Hände und vor
allem auf die Beine. In den nächsten zwei Stunden sehen wir über das Gelände
hasten. Der Stapel Formulare, die sich mit unserer Angelegenheit befassen, wird immer dicker
in seiner Hand. Er rennt von Unterschrift zu Unterschrift. Zuerst muss der Lagerverwalter stempeln
und unterschreiben, dann eine Dame an der Ausgabe, dann die Beauftragte der Zollstelle, danach
braucht der Bote Bernds Reisepass für erneute Fotokopien. Er bringt ihn zurück und
holt ihn gleich darauf wieder, weil irgendjemand einen Stempel hineindrücken muss, auf
dem wir nichts lesen können.
Nicholas unterhält uns derweil routiniert. Es scheint, als ob Fedex seine Mitarbeiter
vor allem für solche Wartefälle ausgezeichnet schult. Der Bote sagt, wir sollen etwa
100 Qetzales, also 15 Dollar, als Aufbewahrungsgebühr an den Zoll zahlen. Außerdem
ist von einem Trinkgeld an irgendjemanden die Rede. Wir sagen zu Nicholas, dass wir eigentlich
gar nichts bezahlen wollen, weil wir den Zoll nicht gebeten haben, das Paket an sich zu nehmen
und der Transport ohnehin nicht wirklich kostengünstig ist. Nicholas versteht und scheint
über eine Not-Kasse zu verfügen, denn er zückt ein paar Scheine. Eine Viertelstunde
später schließt Kerstin den Karton mit dem Notebook in ihre Arme. Nicholas verabschiedet
uns und sagt, wir hätten sehr viel Glück gehabt, normalerweise dauere die Prozedur
erheblich länger.
Wir haben also jede Menge freie Zeit in Antigua geschenkt bekommen und nutzen sie, um uns beispielsweise
auf der Kaffeefarm "La Azotea" umzuschauen. Zuvor haben wir uns nie Gedanken gemacht,
wie die Bohne in den Filter kommt. Ein Rundgang in dem Museum bei der Plantage belehrt uns.
Die Farmer pflanzen die Kaffeebüsche unter schattenspendende Bäume. Ab dem dritten
Jahr setzen sie die ersten Beeren an. In "La Azotea" pflücken 80 Indianerinnen
Kaffee. Da die Beeren nicht gleichzeitig reifen, bleibt die Ernte Handarbeit. Pro Tag müssen
die Pflückerinnen 100 Pfund der roten Beeren sammeln, wenn sie die 25 Quetzales (drei
Dollar) Höchstlohn erreichen wollen. Viele Frauen bringen ihre Kinder als Helfer mit,
und wenn die nicht sauber arbeiten, das heißt, zu viele grüne Kaffeekirschen im
Sack liegen, ziehen die Aufseher Gewicht ab, natürlich über den Daumen gepeilt.
Die Kirschen werden zwei Tage lang in Fermentierungsbottichen geweicht und dann von Schale
und Silberhäutchen befreit. Acht Tage liegen sie zum Trocknen auf dem Ziegelhof der finca,
wo die zunächst weichen Früchte mit Holzrechen alle paar Stunden gewendet werden
müssen. Erst wenn sie hart sind, darf der Traktor zum Umschichten drüber fahren.
Maschinen sortieren die Bohnen nach ihrer Größe und dann fallen sie auf ein Fließband.
Frauen picken alle missgestalteten und gebrochenen Exemplare heraus.
Etwa ein Viertel der Ernte geht so verloren, sagt unsere Führerin, und sie rechnet vor,
dass aus sechs Pfund Erntegut ein Pfund Kaffee entsteht. Sie erzählt, dass nach Äthiopien
und Kenia Guatemala den besten Kaffee der Welt produziert. Der größte Teil der Welternte
kommt aus Brasilien und Vietnam, billige Bohnen, mit denen die Importeure den hochwertigen
Kaffee aus Afrika oder Guatemala strecken. An sie geht auch der Hauptverdienst aus dem Handel.
Für die Ursprungsländer bleibt 16 Prozent vom Ertrag.
Bis zum Rösten haben die Kaffeebohnen keinen Duft. Erst die Hitze formt sie nach dem Geschmack
der Zielländer. Europäer, sagt unsere Führerin, schätzen starke Röstung.
In Guatemala wird leichter Kaffee getrunken. Das Aroma einer in Europa üblichen Tasse
reicht den Guatemalteken für eine Kanne.
Der erste Schluck Kaffee nach dem Rundgang schmeckt irgendwie wertvoller als je zuvor.