Kleines Land geht früh ins Bett

16. Reisebericht vom 10. Mai 2002 Antigua Guatemala - León/Nicaragua

         

Nach 13 Nächten haben wir den Mut, aus Antigua hinauszufahren. Je länger die Reise dauert, desto schneller fühlen wir uns an einem erreichten Ort daheim. Dann scheint die Radtour unterbrochen und wir sind kaum noch unterwegs. Die Verkäuferin in der Panaderia reicht den Beutel mit dem Brot über die Theke und zeigt mit einem Nicken, dass wir ihr nicht fremd sind. Die Schuhputzer am Markt müssen nicht mehr auf unsere Sandalen schauen um zu wissen, dass wir ihnen keine Arbeit bringen.

         

                   

                      

Hinter der nächsten Straßenecke stehen bekannte Mauern. Wir sind erstaunt, wenn wir ein Tor geöffnet finden, das gewöhnlich verschlossen ist. Abends sitzen wir auf dem Dach vom Hotel "San Jeronimo", gucken mit Ivo, dem Radlerfreund aus der Schweiz, und Kim, der kritischen Lateinamerikaliebhaberin aus den USA, ins Kerzenlicht oder zur brennenden Lava des Vulkans "Fuego". Wir haben unsere täglichen Wege gefunden. Sie reichen vom Hotel zum Hauptplatz, zum Markt, zum Lieblingscafé. Auf ihnen sind wir sicher, dem ständigen Erlebenmüssen für eine selbstgewählte Zeit entkommen zu sein. Diese Sicherheit macht uns träge und wir zweifeln daran, ob unsere Beine noch einmal für die Straße zu begeistern sein werden. Doch sobald die Fahrräder unter uns über das knollige Kopfsteinpflaster der Kolonialstadt bocken, wissen wir, dass wir viele Kilometer vor uns haben. Die Faulheit der Ruhe ist verschwunden, bevor wir die letzten Häuser Antiguas sehen. Die Straße zieht sich nach Santa Lucia Milpas Altas knapp 500 Höhenmeter auf den Bergkamm, der die alte Hauptstadt von Guatemala Ciudad trennt. Wir trampeln zügig, weil der Asphalt gut ist und wir wieder in den Rhythmus der Radelei zurückkehren. Der Beschluss heißt, einen Bogen um den Stadtkoloss von Guatemala zu schlagen, weil wir keine Lust haben, uns zwischen hektischen Autofahrern durchzuschlängeln und der Reiseführer sagt, dass der Amatitlánsee einen Besuch wert ist, obwohl die Hauptstädter ihn als bequeme, weil bergab liegende Klärgrube missbrauchen.

         

Wieder erschrecken uns die Berge Guatemalas, weil sie die Straßen fast immer zu speichenbrechender Steilheit zwingen. Solange sie gerade führen, können wir die Bremsen lockern, doch in den Kurven sind wir freiwillig vorsichtig und bezahlen die Materialbelastung mit einer Reparaturpause in Ramirez. Verwunderte Augenpaare schauen uns beim Abpacken, Fahrradumdrehen, und Felgeneinrichten zu. Doch als es noch steiler zum See hinuntergeht, halten alle Eisen und wir können ungestört das grün schimmernde Wasser des eingefallenen Vulkans bewundern. Der See verbirgt hinter seinen Farben den Dreck, der im täglich zugemutet wird. Über die sparsam gewellte Fläche ziehen Motorboote einen Schaumschwanz hinter sich her und am Ufer hüpfen Kinder ins Wasser. Sie baden, weil sie nicht wissen, was Schwermetalle, Industriegift und die Spülung zehntausender Toiletten in ihren Körpern anrichten werden.

         

Wir rauschen im Ort Amatitlán direkt in eine Feria hinein. Einmal im Jahr sperrt man die Uferstraße und baut Buden auf, Fahrgeschäfte und provisorische Tanzhallen. Wir wenden uns an einen Polizeiposten. Die Beamtin erklärt, rings um den See gäbe es einige Orte, an denen Campieren möglich sei, doch sie würde davon abraten, die Stellen seien einsam und deshalb gefährlich. Die Frau, sie trägt wie ihre männlichen Kollegen einen Revolver im Ausschnitt der kugelsicheren Weste, sagt, es sei besser, an der Polizeistation nach einem Übernachtungsplatz zu fragen. Vor dem in den Nationalfarben weiß und blau gestrichenen Gebäude haben wir Glück. Wir treffen Hernandez Fuentes und die goldenen Keile auf seinen Schulterklappen verraten, dass er genug zu sagen hat, um uns in den Garten des Postens einzuladen und auch genug, um uns die Duschen und Toiletten der guatemaltekischen Staatsmacht anzubieten. Wir bauen das Zelt auf und sind sicher, die gesamte Ausrüstung in der gewaltigen Polizeinähe zurücklassen zu können. Wir melden uns brav ab und suchen unter den Essensständen am See einen, in dem wir gebratenen Fisch, mojarra, und eine scharf gewürzte Blutwurst essen. Die Guatemalteken, einmal zum Feiern bewegt, halten sich beim Alkohol nicht zurück. Wir treffen mehr Betrunkene als Festgäste, die geradeaus laufen können. In jedem Bierstand stehen dicke Boxen aus denen Musik kommt, deren Lautstärke Schönheit ersetzen muss. Man schenkt das Bier "Gallo" in Literflaschen aus, und den Schnaps in giftigen Viertellitern. Die sittsamen Beamtinnen begleiten Kerstin in die Damenbaracke. Bernd darf bei den Herren duschen. Nebenan schläft der Polizistennachwuchs in Stockbetten. Die Uniformen und Waffen sind militärmäßig in eisernen Spinden verräumt. Die Uferstraße des Amatitlánsees ist eine Traumstrecke für Radfahrer. Auf dem schmalen, glatten Teerband sind wenige Autos unterwegs. Wir treffen Rennradler in Horden, sie veranstalten ihren Sonntagssport und haben sich aufgemacht, die professionellen Fahrradshirts und eng anliegenden Hosen mal kräftig durchzuschwitzen. Die meisten grüßen uns Packesel freundlich, manche haben für langsamere Weggenossen keinen Blick übrig. Der Spaß des Freizeitradelns ist zu Ende, als wir uns vom See abwenden. Natürlich haben wir von beiden Möglichkeiten, den Bergrahmen zu überwinden, die schlechtere gewählt. Hinter Villa Canales steigt die Straße entsetzlich steil nach San Jose El Tablón an. Der sonnengepeinigte Asphalt heizt die Schuhsohlen auf, als wir mit durchgedrückten Armen die Räder über die ärgsten Passagen stemmen. Eine grauhaarige Frau sieht durch das Eisengitter ihrer Hofeinfahrt, wie wir am Straßenrand verschnaufen. Sie schickt ihren Enkel mit Schokoladenküchlein und lässt ihn unsere Wasserflaschen auffüllen. Sie bietet an, ihre Tochter werde uns Sandwiches zubereiten. Wir wissen noch nicht, dass die Straße auf den kommenden fünf Kilometern teilweise noch steiler wird, doch dann keinen Teer mehr hat und natürlich keinen Schatten. Am Beginn der Staubpiste empfiehlt ein Mann, einen Pickup nach Tapacún zu nehmen. Wir wollen das nicht. Es wird die erste lange Schiebepartie und wir gehen im Geist wieder einmal jedes Teil in unseren Packtaschen durch, auf der Suche nach Erleichterung.

         

Hinter jeder Biegung dieses ausgespülten und zerfahrenen Weges kommt eine neue Steilkehre in Sicht. Die Arme schmerzen und wir wissen nicht, wie wir mit den Händen eine bequeme Stellung an den Lenkrädern finden sollen. Neben uns gehen gebeugte Männlein unter Holzbündeln. Sie sind flotter unterwegs und grüßen freundlich: "Nur noch ein Kilometer, dann seid ihr dort." Sie haben keine Ahnung, dass Kilometer gewöhnlich nur aus 1.000 Metern bestehen. Das asphaltierte Stück zurück zur Carretera, die an dieser Stelle Guatemala Stadt erst seit 27 Kilometern hinter sich hat, scheint uns kaum der Rede wert. Die Hauptstraße verlässt das Hochland in einem hübschen Schwung, auf dem wir zehn Kilometer abwärts schwirren. Links am Straßenrand sehen wir hinter einem doppelflügeligen Tor eine finca, die zum Halten reizt. Vor dem Farmhaus steht ein Kirchlein aus Natursteinen, das die Besitzer 1902 bauen ließen. Drumherum wächst Wiese, die uns als idealer Platz für die Nacht erscheint.

         

Der encargado ist daheim, aber er verweist uns an den Wächter, der leider in der Hauptstadt ist, jedoch bald heimkommen sollte. Wieder warten wir vor einem verschlossenen Tor auf eine Übernachtungsgenehmigung. Diesmal erscheint der Abwesende bald. Allein möchte er sich mit uns nicht festlegen und fragt den encargado um dessen Meinung. Gemeinsam entschließen sie sich, dass wir für eine Nacht keine Gefahr darstellen, und dann beziehen wir den romantischen Zeltplatz. Über uns breitet ein gigantischer Ceiba-Baum Äste und Blätter, zur Straße hin schirmt uns die Kirche und nebenan ragt ein Wasserhahn aus dem Boden. Ein Gartenschlauch liegt auch dabei. Wir basteln eine Freiluftdusche. Die Panamericana wechselt in eine flachere Landschaft. Wir kommen an eine Abzweigung. Links führt die Straße auf eine Bergkette, bevor sie in einem Bogen El Salvador erreicht.

         

                   

Wir haben beschlossen, die kürzere CA 8 zu nehmen. Nach zwei kleineren Ortschaften wird es einsam um uns. Die gewohnten Trockenbüsche stehen herum, zwischendurch einige Bäume, die ihr Blättergrün wohl aus tieferen Bodenschichten holen. Während einer Abfahrt halten uns zwei Motorradpolizisten auf. Sie winken uns zu sich, und während wir an den Wasserflaschen nuckeln, erklären sie, dass die Gegend rund um Las Cabezas sehr gefährlich sei. Auf einer Strecke von 15 Kilometern treiben sich eine Menge Menschen mit Knarren rum, die sie auch gern benutzen. Der stämmigere der beiden Polizisten sagt: "Se asaltan mucho aqui", Hier überfallen sie viel. Kerstin fragt: "Und was sollen wir jetzt machen?" "Keine Angst, wir passen auf Euch auf, es wird nichts passieren", sagt der Polizist. Dann geht es geschwind weiter, wir spähen nun viel aufmerksamer in die Landschaft sehen aber trotzdem nur dürre Büsche und gelegentlich einen Baum. Die Motorradeskorte überholt uns zweimal und lässt sich zweimal von uns überholen. Am Straßenrand sehen wir einen Polizeiwagen stehen und die Männer der Streife stoppen uns. "Es ist sehr gefährlich hier, se asaltan mucho", sagt einer der Polizisten. Sie würden uns ja gern bis in den nächsten Ort fahren, doch leider litten sie derzeit an Spritmangel. Wir erklären, dass wir bereits bewacht werden und in diesem Moment fahren unsere Motorradler vorbei. Die doppelte Warnung aus Polizistenmund beschleunigt unsere Beine und selbst die Hügel bis Jalpatagua halten uns nicht wirklich auf. Ein paar Hotels zehren in der letzten Siedlung vor El Salvador vom Grenzverkehr und wir nehmen ein Zimmer in einer Hospedaje. Die Herbergsmutter dreht um 20 Uhr das Wasser ab und das Bett steht in einer ventilatorlosen Schwitzhöhle, die während der Nacht vom aggressiven Summen Dutzender Mücken erfüllt ist. Wir zählen beim Frühstückskaffee die neuen Stiche an Armen und Beinen. Die 18 Kilometer zum Grenzort Valle Nuevo machen sich lang, dann fahren wir an einer Reihe geparkter Lkw vorbei, deren Fahrer im Schatten der Anhänger der Abfertigung entgegendösen. Am Kontrollposten empfangen uns Geldwechsler, sie wedeln mit Paketen aus Dollar-, Quetzal- und Colonesscheinen. Wir spielen mittellose Radler und nachdem die Ausreisestempel erteilt sind, fahren wir über die Brücke des Rio Paz und sind in El Salvador angekommen.

         

Fünf Kilometer lang müssen wir durch noch dürreres Land aufwärts strampeln, danach läuft es leichter. Wir erreichen Chalchuapa und sehen ein Schild, das zu einer "Unidad de Salud" weist. In der Hoffnung, dort eine Campiermöglichkeit zu ergattern, biegen wir in die holprige Straße. Nach einem halben Kilometer endet das Pflaster, Staub beginnt und wir haben keine Lust uns dort hindurch zu schleppen. Wir halten neben einer Mauer, in die ein Eisentor eingelassen ist, darüber steht: Instituto Educacional "Maria Auxiliadora". Eine Klingel gibt es auch. Nach einigen Minuten öffnet eine Frau, sie hat Misstrauen in den Augen. "Ich muss die Schwester Direktorin fragen", sagt sie. Bei Nonnen genießen Frauen einen Zuneigungsvorsprung, Kerstin geht durch das Tor, den Herrinnen des Hauses unser Anliegen zu erklären. Der Weg zur Direktorin führt über Schwester Maria Emma García Valladares. Sie ist eine kompakte Person, in der das Selbstbewusstsein einer Lehrerin so stark lebt wie das Selbstverständnis einer Nonne. "Willst Du als Volontärin an unserer Schule arbeiten?", fragt Emma. Die Direktorin, Schwester Irma, entscheidet flott, dass wir gern im Hof des Kindergartens übernachten dürften. "Aber macht die Tür zur Schule nicht auf, wir lassen nachts unsere Hunde frei laufen, sie sind sehr wild." "Nein, nein, keine Angst, wir bleiben an unserem Platz. Mehr als schlafen wollen wir nicht." Schwester Emma sagt, sie wird uns in die Stadt begleiten und ein Restaurant aussuchen, in dem wir gutes Essen bekommen. Sie geht vor uns, unerschütterlich und in festem Schuhwerk. Sie trägt eine weiße Bluse, auf der von der Tagesarbeit ein paar Flecken zurückgeblieben sind, einen dunkelblauen Rock. Die Frau leidet an Asthma und atmet schwer in der Hitze, doch das hindert sie keineswegs an huldvollen Begrüßungen, wenn Kinder auf der Straße "Hermana, Hermana" rufen und auf sie zuspringen. Dann streichelt Emma über Köpfe und beugt sich vor um Küsse auf die Wangen zu drücken. Sie setzt uns in einer Hühnerbraterei ab. "Wartet auf mich, ich habe noch etwas zu erledigen." Bevor wir unsere Portionen verdrückt haben, ist sie zurück und stampft gleich wieder davon, weil sie uns ein Stück Kuchen besorgen will. Ein Essen ohne Dessert ist für Emma kein Essen. Dann läuft sie wieder voraus durch die Straßen, tätschelt Kinderköpfe und erzählt ein wenig von ihrem Leben im Orden der "Hijas del Divino Salvador", einem Zweig der Salesianerinnen. Sie beklagt, dass die Lehrerinnen in einer Klasse vor 40 bis 65 Kindern stehen, lobt die Wohlerzogenheit der Salvadorenos und erzählt schaudernd von den Banditen, die sich stets in der Nähe der braven Bürger rumtreiben und auf Gelegenheiten lauern, ihre diebischen Pläne umzusetzen. Diese "maras" sind laut Emma einfach zu erkennen. Sie sind tätowiert und haben Angst vor Menschen, die sich in Gruppen bewegen. Bevor wir uns ins Zelt legen, klopft die Direktorin an der Tür zum Hof des Kindergartens. Sie wird von Schwester Mercedes begleitet, die eine Schale mit Obst trägt und uns daraus zwei Mangos und ciruelas, eine Pflaumenart, auswählt. Die Nonnen wollen noch ein bisschen plaudern und ziehen sich dann mit guten Wünschen zur Nacht zurück.

         

Am Morgen sind wir auf einen Kaffee zur Direktorin geladen. Sie zeigt die Pläne für einen Erweiterungsbau der Schule und erzählt, wie schwierig es ist, das Geld aufzutreiben. Ob wir ihr helfen könnten und in Deutschland mal bei Kirchengemeinden rumfragen würden. Wir kennen unseren Abstand zur Kirche und machen ihr nicht viel Hoffnung. Dann sagt Schwester Emma, sie werde uns zu den Mayaruinen der Stadt begleiten. Es heißt, die Pyramiden von Tazumal seien die wichtigsten in El Salvador, und sie liegen wenige Minuten zu Fuß von der Schule entfernt. Am ersten Mai feiern die Salvadorenos den Tag der Arbeiter, indem sie nicht arbeiten. Der Gärtner des Archäologieparks steht im Schatten des Wachhauses und hat keine Lust uns einzulassen. Als Emma Zucker auf ihre Stimme streut und verspricht, wir würden nur ein "ratito" bei den Ruinen bleiben, wird er weich und sagt, wir sollen um zehn Uhr zurückkommen. Die anderthalb Stunden bis dahin will Schwester Emma mit uns am Stadtweiher verbringen. Wir spazieren um zwei Häuserblocks und sehen von oben das mineralhaltige, gelbliche Wasser des Teiches. Am Ufer will Emma plötzlich nicht mehr weiterlaufen. Sie fühlt sich unwohl, weil auf dem Waldweg zu wenige Leute unterwegs sind und sie das Gefühl hat, an der anderen Seite warteten "maras", die Banditen auf uns. Doch dann taucht eine Gruppe Jugendlicher auf, etwa zehn Mädchen und Jungen. Sie sind ebenfalls auf dem Spaziergang und in ihrer Nähe fühlt Emma sich der Teichumrundung gewachsen. Am Zaun um die Pyramiden stürmt sie einen Andenkenstand und kauft für Bernd eine Halskette aus blauen und braunen Perlen. Da Kerstin bereits eine Kette trägt, bekommt sie ein ledernes Armband. "Damit ihr Euch an mich erinnert", sagt Schwester Emma, und dass es ihr viel Spaß gemacht hat, sich mit uns zu unterhalten. Es geht auf Mittag zu, als sie mit uns über die aufgeheizte Pyramide schnauft.

         

Die Nonnen winken uns nach, bis wir hinter der Straßenecke verschwinden. Unsere Pakkas rennen auf Santa Ana zu, einer Stadt, die uns als besonders schön beschrieben wurde. Doch auch zwischen diesen Mauern fühlen wir die Trostlosigkeit eines Landes, das sich von dem seit zehn Jahren beendeten Bürgerkrieg nicht erholt hat. Architektur erkennen wir nur in Ansätzen, die Häuser stehen mit abgerissenen Fassaden an den Straßen, als ob sie lieber heute als morgen zusammenfallen würden. Dieser Fatalismus bestimmt auch das Dasein der Menschen in El Salvador. Sie begegnen uns mit großer Liebenswürdigkeit, doch wir sehen wenige lächeln, lautes Lachen scheint es überhaupt nicht zu geben. Zwischen sechs und sieben Uhr abends schließen Geschäfte und Restaurants, und dann stirbt das öffentliche Leben. Zwar brennen einige Straßenlaternen, doch unter ihnen bewegt sich wenig. Alle, mit denen wir uns unterhalten, sind erfüllt von Angst vor der Dunkelheit, vor dem Nachbardorf, in dem Spitzbuben zu Hause sind, vor den Banditen, die angeblich keinen Menschen lebendig lassen, eigentlich vor allem, was sich außerhalb ihrer eigenen Mauern tut. Nie wurden wir so oft gewarnt, sagte man so oft, wir sollten auf uns aufpassen, wurde die Straße weniger nach der Qualität ihres Belages beurteilt, als nach den Gestalten die sich vielleicht in der Nähe herumtreiben könnten. Nie treffen wir jemanden, der uns ans Leder will, stets Menschen, die uns erklären, dass genau das hinter der nächsten Kurve passieren wird. Die Furcht färbt auf uns ab und wir suchen an jedem Abend einen Schlafplatz, der von einer Mauer oder mindestens einem Zaun umgeben ist. Der allgegenwärtige Müll am Straßenrand stimmt uns traurig. Wahr ist, dass die meisten Einwohner Mittelamerikas genug zu tun haben, das tägliche Essen zu verdienen. Vielen gelingt es auch mit harter Arbeit nicht, die Familie zu sättigen. Doch in keinem anderen Land wird so hemmungslos weggeschmissen wie in El Salvador. Kinder und Erwachsene kaufen kaltes Wasser in Tüten, sie saugen es leer, und mit einer der nachlässigsten Handbewegungen der Welt fliegt das Plastik auf den Boden. Dasselbe tun sie mit anderen Verpackungen und mit allem, was ihnen unbrauchbar scheint. Der Müll stinkt neben Häusern, in Straßengräben, überall da, wo der Wind ihn zufällig zu Haufen kehrt. Auch Schwester Emma ließ, nachdem sie das gehobelte Eis mit Sirup geleert hatte, das sie in Salvador "minuta" nennen, Becher und Löffel wie eine unreine Hostie vor ihre Füße fallen. Wie alle anderen beschwerte sie sich, dass es im Land so dreckig ist. Der Zusammenhang zwischen dem Mist, den sie fallen lassen und der Vermüllung scheint den Salvadorenos verborgen. Über einen tristen Teil der Panamericana erreichen wir den Lago Coatepeque, den dritten eingefallen Vulkankrater der Reise, und wie bei den Lagos Atitlán und Amatitlán führt eine steile Abfahrt an sein Ufer. Am Beginn der Lehmstraße hat das Arbeitsministerium ein "balneario de obreros", ein Arbeiterbad, an den See gebaut. Vier dieser Komplexe sind in Erholungsgebieten über das Land verteilt.

         

Auf dem umzäunten Gelände stehen Bungalows, in denen alle, die eine schriftliche Genehmigung vorweisen können, kostenlos so lange Urlaub machen dürfen, wie sie wollen. Wir haben keine Erlaubnis, weil das Ministerium in San Salvador sitzt und wir nicht beabsichtigen, in die Hauptstadt zu fahren. Wir hoffen auf unsere Überredungskunst und auf den Eindruck, den unsere bepackten Räder machen. Der Wächter am Tor sagt: "Kein Problem, kommt rein, sucht Euch einen Platz zum Schlafen." Als das Zelt steht, im Schatten der Cafeteria, die von einem Betonarchitekten der DDR entworfen sein könnte, kommt er vorbei und fragt: "Ist es euch hier draußen sicher genug? Zieht morgen lieber in einen Bungalow um." Das Gelände sei zu groß, um bewacht werden zu können und wer weiß, vielleicht sind gerade in dieser Nacht "maras" am See unterwegs. Wir packen am Morgen unsere Sachen zusammen, doch der Kollege des Wächters will ohne Genehmigung keinen Schlüssel rausgeben. Wir sollen nach Santa Ana fahren, dort unterhalte das Ministerium ein Büro, in dem wir die Genehmigung ausstellen lassen könnten. Erst als unser Freund, der Wächter, auftaucht, sind wir von der Fahrt und einer Passvorzeige- und Bürokratieprozedur befreit. Wir stellen Räder und die Taschen in eins der Häuschen. Durch ein fast wandgroßes Fenster strahlt die Sonne auf drei Metallbetten. Außer ihnen steht ein Plastiktisch im Raum, vier Plastikstühle. Neben der Tür zum Badezimmer hängt eine Tafel mit Benimmregeln: "Die Sauberkeit dieses Ortes hängt von Deinem Verhalten ab. Wirf den Müll an seinen Ort." Wir spazieren an der Seestraße entlang. Viele Kilometer finden wir keinen Zugang zum Ufer, sehen nicht einmal das Wasser. Der Platz ist von Hauptstädtern belegt, die es sich leisten können, ihre Häuser einmauern zu lassen. Durch Gittertore schauen wir auf Wiesen, deren Gras gekämmt und rasiert aussieht. Die Villen sind in fleckenloser Farbe gestrichen. Das wirkt besonders krass, weil auf der anderen Straßenseite, fünf Meter von den Mauern entfernt, hinter dem sich dieser Luxus versteckt, Menschen in Wellblechhütten hausen. Sie besitzen keine Wasserhähne, keine Toiletten, oft keinen Strom. An den Wochenenden werden die Arbeiterbäder von Schulklassen besucht. Wir finden in der Cafeteria ein Aktionsprogramm für die anderthalb Tage, einen Stundenplan, in dem sich Schwimmen, Volleyball und Sexualerziehung abwechseln. Zwei Schreibmaschinenseiten voll pädagogisch wertvoller Beschäftigung. Unter der Woche stehen die Bungalows leer, das Schwimmbecken liegt verlassen hinter einem Zaun, an dem ein Schild die Pausen vom Planschbetrieb festlegt.

         

Der "Lago de Coatepeque" grenzt an den Nationalpark "Cerro Verde", in dem der Kegel des Vulkans Santa Ana steht. Wir fahren im Bus hinauf. Aus den Polstern der Sitzbank schauen wir rechts hinunter auf den See und links ins Flachland Richtung Hauptstadt. Innerhalb von 22 Kilometern verändert sich die Umgebung vollständig. Der Wald wird dichter, das Blättergrün frischer. Aus jeder Straßenkurve haben wir einen noch besseren Blick auf den See, der von hier oben wie hingepinselt wirkt zwischen die Hügel, über denen die grauen Gipfel der Vulkane hocken. Wolken verschleiern die Sicht und machen die Aussicht noch mehr zu einem Schauspiel. Der Bergrücken, auf dem die Straße den Cerro Verde erreicht, steht wie eine sinnlose Falte über der Ebene. Als wir einsteigen, schwitzen wir in den T-Shirts, eine Stunde und 1.300 Höhenmeter später treibt uns ein kühler Wind Gänsehaut über die Arme. Natürlich liegen die Jacken im Bungalow. Wir brauchen sie nicht, denn die Wanderwege rings um den Vulkan sind gesperrt, seit das Erdbeben am 13. Januar 2001 Felsen von den Bergen hüpfen ließ. Die Salvadorenos hatten genug zu tun, ihre Toten zu bestatten und den hauslos gewordenen Menschen eine neue Bleibe zu schaffen. Wanderwege für neugierige Touristen stehen in der Reparaturliste ziemlich weit am Ende.

                   

In La Libertad, wir haben auch um die Hauptstadt San Salvador einen Haken geschlagen, sehen wir nach mehr als einem Monat den Pazifik wieder. Wir schauen über die Mauer des zweiten Arbeiterbades auf die Wellen, die hier besonders wild gegen den Strand rollen. Ein heißer Tipp für Surfer, Schwimmer paddeln in der Strömung ziemlich hilflos. Auch hier hat unsere Geschichte, als langsame Radler die Hauptstadt noch nicht erreicht zu haben, Erfolg. Der Direktor des Bades lässt uns unter Palmen zelten. Kaum haben wir nach dem Sonntagsfrühstück das Geschirr und den Kocher verstaut, brummen Busse auf den Parkplatz und wochenendfreudige Familien mit Sonnenschirmen, Kühlboxen und Schwimmflügeln verteilen sich an den Picknicktischen. Aus Kassettenrekordern dröhnen verzerrte Schlager. So viel Liebesschmerz vor acht Uhr morgens vertreibt uns. Wir folgen der Litoral, der Küstenstraße CA 2, die durch die Ebene am Fuß des Berglandes über die Städte Zacatecoluca und Usulutan die Grenze von Honduras erreicht.

         

Vor Usulutan, in dem Örtchen San Nicolás Lempa, wollen wir übernachten und suchen uns die Frauenklinik aus. Die Ärztinnen sind längst nach Hause gegangen, doch im Nebengebäude wohnt der Wächter. Er kommt an die Tür. Der Arme schüttelt sich vor Fieber und lädt uns trotzdem mit einer Armbewegung ein, im Hof zu nächtigen. "Ja, dies ist eine Klinik aber leider sind momentan keine Tabletten gegen Fieber vorhanden." Kerstin fragt ihn nach Schmerzen und anderen Symptomen, dann geben wir dem Mann vier Paracetamol. Zwei soll er sofort nehmen und sich dann ins Bett legen. Als es dunkel geworden ist, kommt er zu uns ans Zelt. Der Mann humpelt, das ist wohl eine Verletzung aus dem Bürgerkrieg, in dem er gegen die Regierung kämpfte. "Hat sich der Krieg gelohnt?" Er lacht ein wenig. "Zumindest die Wahlen sind frei, wir können fast ohne Repressionen unsere Meinung sagen." Vorher lag der größte Teil des Besitzes in den Händen von 14 Familien. "Jetzt teilen sich 21 Sippen die ökonomische Macht." Der Ex-Kämpfer lacht noch einmal. Er hat sich aus der Politik zurückgezogen, weil sich die Mitglieder der FMLN, der Partei, die aus der bewaffneten linksgerichteten Contra-Armee hervorging, zerstritten. "Es wäre für El Salvador ein großes Unglück, wenn die Linken jemals aus der Opposition herausträten. Seria increible", sagt der alte Kommunist, bevor er schlafen geht. San Miguel erreichen wir nach einem heißen Radtag. Der Höhepunkt der Hitze kommt stets nach der Mittagspause wenn die Sonne zwar den Zenit ihrer Kraft überschritten hat, die Steine, Felsen und der Asphalt diesen Mangel jedoch leicht ausgleichen, indem sie die gespeicherte Wärme abstrahlen. Dann beginnen wir, Kilometersteine zu zählen. Sie scheinen immer weiter auseinander zu rücken.

                   

In der Stadt, die auf den ersten Blick viel freundlicher aussieht als ihre salvadorenischen Schwestern, nehmen wir ein Hotel neben einer Pistolenwerkstatt. Der Büchsenmacher scheint nicht unter Arbeitsmangel zu leiden, obwohl wir im Land weniger Knarren sehen als in Mexiko. Als wir ein Restaurant suchen, um endlich einmal die gerühmten Pupusa, mit Käse gefüllte Maisfladen, zu essen, radelt uns ein hagerer Mann entgegen. Herm, Lehrer aus Holland, hat für eine Tour von Costa Rica nach Mexiko ein Sabbath-Halbjahr genommen. Er ist der einzige ausländische Tourist, den wir in El Salvador treffen. Knapp 50 Kilometer später stehen wir wieder auf einer Brücke, die einen Grenzübergang markiert. Hinter uns liegt El Salvador, dem wir nur eine Woche widmeten, in dem wir uns trotz der freundlichen Menschen nicht wirklich unbeschwert fühlten.

         

Eine spezielle Geld-Erfahrung nehmen wir mit. In dem kleinen Land schlägt man sich zur Zeit mit zwei Währungen herum. Offiziell hat die Regierung die Geschäfte auf den US-Dollar umgestellt, doch noch existiert der Colón gleichberechtigt. Der Wechselkurs ist gebunden und steht bei 8,75 Colones für einen Dollar. Das wäre verhältnismäßig leicht zu rechnen, wenn der Dollar nur in Scheinen existierte. Tatsächlich sind auch alle us-amerikanischen Münzen im Umlauf. Wir kauften zwei Flaschen Cola und bezahlten mit einem 25-Colones-Schein. Als Wechselgeld erhielten wir eine Dollarnote, ein paar Dollar-Cent, einige Colones-Scheine und eine Handvoll Centavos. Wie rechnet man schnell und ohne Taschenrechner nach, ob die Kasse stimmt? Wenn wir uns bei einfacheren Transaktionen die Mühe machen, sehen wir immer, dass Salvadorenos rechenunkundige Fremde nicht bescheißen. In den anderen Fällen glauben wir, was man uns vorzählt.

         

Vor uns liegt der pazifische Zipfel von Honduras und wenn wir feststellen, El Salvador nicht genug gewürdigt zu haben, müssen wir zugeben, Honduras schlicht zu überrollen. Die erste Nacht in Honduras verbringen wir im Grenzort El Amatillo. Das Hotel ist hinter Lkw versteckt, die demnächst vom Zoll abgefertigt werden. Auch hier liegen die Fahrer in Hängematten unter ihren Anhängern und winken uns staubigen Radmäusen zu. An dem Hotel ist einzig die Geldeintreiberin bemerkenswert. Sie sitzt wie eine Kröte hinter der Kassenlade. Ein Mädchen hockt über die Füße der Fetten gebeugt und polkt mit einer Nagelfeile überschüssige Haut unter den Zehennägeln hervor. Später wechselt das Mädchen die Position und krault der Kassenwartin die Kopfhaut und die Schulterblätter. Die so Verwöhnte muss die Tochter der Besitzer sein. Ihr gehört das Recht, die Dienstmädchen mit gelangweilter Stimme zu scheuchen. Sie ist höchstens 24 Jahre alt. Kerstin kommt mit einer der Angestellten ins Gespräch. Die Frau stammt aus Nicaragua und ist zum Arbeiten nach Honduras gewechselt. "Die Löhne sind besser." In Mittelamerika ist oft das Nachbarland die bessere Wahl.

         

Die nächste Station machen wir in Choluteca, nach 90 Kilometern, auf denen uns Kinder "Gringo, Gringo" hinterherschreien. In einem Dorf kurz hinter der Grenze sehen wir bunte Hähne, Schweine und Schalen aus Ton zum Verkauf an den Straßenrand gestellt. Wir können uns nicht recht vorstellen, wer diese so großen wie grässlichen Souvenirs kauft. Am Eingang Cholutecas fahren wir über eine Brücke. Ihre filigrane Stahlkonstruktion wirkt ungewöhnlich in einem Land, in dem über Flüssen fast immer eine flache Betonplatte liegt. "In Honduras gibt es kein Wasser", sagt die Frau im Hotel, weil sie uns zum Duschen nur einen Eimer anbieten kann. "Wir bekommen das Wasser per Auto geliefert." Trotz seiner Armut wirkt das Land lebendiger als El Salvador. Hören wir Musik, klingt sie zum ersten Mal nach Karibik, doch auch die Straßen dieser Stadt liegen bald nach der Dämmerung verlassen. An den Hausecken stehen Soldaten, Gewehre hängen über ihren Schultern. Sie bewachen die Bewegungslosigkeit. Unser Rest von Honduras ist: flach, dürr und menschenarm. In El Triunfo halten wir noch einmal an einem Dorfladen. Der Besitzer reicht uns Colaflaschen aus dem Fenster. Die Schule ist aus und nach einigen Minuten sitzen und stehen Dutzende Kinder um uns herum. Sie schauen, sprechen aber nicht. Wir fühlen uns wie Zootiere. Gelegentlich hören wir ein geflüstertes "Gringo". Das Wort ist keineswegs ein Kosename, sondern enthält eine Portion Aggression gegen Fremde, die in der Vorstellungskraft der Schimpfenden aus den USA kommen müssen, vor allem, wenn ihre Haut hell ist. Wir versuchen es mit munterem Nicken und ein paar Fragen, doch die Kinderaugen blicken starr und die Münder bleiben stumm. Die Grenze ist wieder eine Brücke. Die Nicaraguaner nehmen uns 14 Dollar als Eintrittspreis ab und dann sind wir in einem Land, das womöglich noch trockener und noch heißer ist als seine Nachbarn. Sechs Kilometer später halten wir für diesen Tag in El Somotillo und feilschen ein bisschen mit dem Besitzer des Hotels "El Panamericano". Er sitzt auf dem Klo und die Kellnerin übermittelt unsere Fragen, seine Antworten, seine Fragen und unsere Antworten. Das Zimmer, das wir für eine Nacht erwerben ist ein Loch, in dem wir vom Bett aus auf die Dachziegel schauen. Der Ventilator befächelt uns mit heißer Luft, Kerstins Thermometer zeigt 40 Grad. In der Nacht merken wir, dass die Nicaraguenses anders leben. Vor allem trinken sie anders als ihre Nachbarn. Das Nationalgetränk heißt "Flor de Cana" und ist ein milder Rum. Die Nicaraguenses trinken, bis es vorn rausspritzt. Wir sitzen in der Bar, die zu dem Hotel gehört, sind mit dem Tagebuch und einer Ölung der Fahrradketten beschäftigt, als ein Mann aus dem Haus stolpert, lang auf die Fliesen klatscht. Dann blubbert es aus seinem Mund. Geschwind ist einer der wartenden Rikschafahrer da, der ihn auflädt und eine Kellnerin mit einem Wischlappen. Später wankt ein anderer an die Brüstung der Terrasse. Während er sich über die Mauer erleichtert, streichelt die Freundin seinen Hinterkopf. Andere ertragen den Alkohol leichter, doch niemand steht nüchtern von einem Kneipentisch auf. Nicht in Nicaragua. Bis Leon fahren wir fast 120 Kilometer durch eine Landschaft, die von extremer Armut geprägt ist. Früher standen hier wohl Wälder. Sie sind längst in Rauch aufgegangen. Über die vertrockneten Grasbüschel weht heißer Wüstenwind. Manchmal treibt er den Sand zu wirbelnden roten Säulen auf, die sich auf die Straße zuschrauben.

         

Die Grundstücke, an denen wir vorbeikommen, sind eingezäunt. Wir können weder auf den ersten noch den zehnten Blick sagen, ob es sich um Weiden oder Felder handelt. Überall liegt derselbe braunrote Lehm nackt in der Sonne. Das wenige Vieh steht klapprig im Schatten der übrig gebliebenen Bäume. Die Beckenknochen versuchen, Löcher ins Fell zu stoßen. Den Besitzern geht es nicht viel besser als den Tieren. Bevor wir die Häuser der kommenden Siedlungen sehen, ahnen wir ihre Nähe. Jungen im Grundschulalter haben sich am Straßenrand postiert, um die Vorbeifahrenden anzubetteln.

         

Sie begnügen sich nicht mit Schreien und geöffneten Händen. Manche simulieren Straßenarbeiter, indem sie einen Sack Steine in ein Schlagloch kippen und für diese Tat einen Lohn fordern. Ein Bub hat eine Leine über die Fahrbahn gespannt. Als wir uns nähern, hebt er sie an, um einen Halt zu erzwingen. Wir fahren auf den Vulkan San Christobal zu. Seine perfekten Seitenlinien laufen auf eine abgebrochene Spitze zu, den aktiven Krater. Die Carretera umschließt den dampfenden Berg in einem Halbkreis und erreicht Chinandega. Hier beginnt eine wohlhabendere und grünere Gegend, durch die wir auf León, die Exhauptstadt Nicaraguas zufahren. Schon nach wenigen Minuten glauben wir, León könnte eine Lieblingsstadt werden. In dem Schachbrett kolonialer Straßenführung spüren wir Leben. Zwar ist es noch gehemmt von der allzu nahen Kriegserfahrung, doch die Leonenses haben Biss, der uns vermuten lässt, dieses Land wird sich schnell von der Vergangenheit befreien. Die Begrüßung fällt allerdings recht kühl aus. Im "Casa Ivana", vom Reiseführer als Nonplusultra beschrieben, will man uns nicht aufnehmen, weil die Dame des Hauses glaubt, keinen Platz für die Räder zu haben. Wir können sie nicht umstimmen. Als wir zur Suche nach einer anderen Herberge an einer Straßenecke stehen bleiben, spricht uns eine Frau an. "Sucht Ihr ein Zimmer?" Wir ziehen in das Haus von Dorally ein. Sie betreibt eine kleine Kneipe und vermietet ein Zimmer, in dem auch sechs Gäste Platz hätten. Dorally, die ihre drei Kinder allein durchbringen muss, nachdem ihr Mann abgehauen ist, meistert alle Schwierigkeiten mit einem jederzeit aufflammenden Lachen. Ihre jüngste Tochter, die 15-jährige Blanca, ist taubstumm und lebt als einzige noch ständig bei der Mutter. Wir wohnen in einer Familie, die uns einen ganz speziellen Einblick in die Gesellschaft Nicaraguas gewährt. Dorally pflegt mit ihren Nachbarinnen Freundschaft und in ihrer Küche sind fast immer mehrere Frauen beschäftigt, der Fernseher läuft und alle freuen sich darüber, dass ein Regierungsmitglied soeben der Korruption überführt wurde. Dorally ist Sandinista, und das bedeutet auch zwölf Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs ein waches Ohr auf die Politiker und ihre Machenschaften zu haben. Beim ersten Abendspaziergang entdecken wir, dass León so ist, wie wir uns kubanische Städte vorstellen. Abends öffnen die Bewohner die Türen und Fenster ihrer flachen Häuser, wir können durch die hallengroßen Wohnzimmer bis in die Innenhöfe schauen. Eine ständige Brise weht durch die Straßen und die Leonenses genießen den Hauch frischer Luft im Schaukelstuhl. Hier wippen alle: Enkelin, Großpapa und die Mama. Jeder sucht sein Lieblingsplätzchen um sanft zu schaukeln.

         

Die meisten gruppieren sich um den Haus-Fernseher, aber manche Schaukler stellen ihre Stühle auf den Gehsteig und quatschen mit den Nachbarn oder schauen einfach nur, wer so vorbeikommt. Da ist viel zu beobachten, denn die Nicaraguenses denken nicht daran, sich vom Sonnenuntergang ins Haus treiben zu lassen. Um den Hauptplatz, auf dem Hotdogs aus kleinen Karren, Pizzastücke, geschmortes Fleisch, gebratene Bananen, das gallo pinto, die Mischung aus Reis und braunen Bohnen, und alle Sorten Erfrischungsgetränke verkauft werden, flanieren Pärchen. Gruppen von Teenagern haken sich unter und stromern von einer Disco zur nächsten. Aus vielen Häusern hämmern harte Beats. Das sind Tanzschuppen in Bruchbuden. Man hat zwar nicht viel Geld hier, aber eine Menge Spaß.

         

Am Hauptplatz lernen wir einen anderen Sandinisten kennen. Salvador winkt uns in ein Haus, das seine Partei bezogen hat, um ein Exempel zu statuieren. Gegenüber liegt die Kathedrale, der größte Kirchenbau Mittelamerikas wie ein Machtklotz aus Steinquadern, übers Eck residiert der Bürgermeister, auf der anderen Seite betreiben Mönche eine christliche Schule, und auf dem Sandinistenhaus weht die Fahne rot und schwarz. "Rot wie das Leben, schwarz wie der Tod", sagt Salvador.

         

Das Haus steht leer, die ehemaligen Straßenkämpfer haben nichts, mit dem sie den Platz füllen könnten. In einem der Räume im Erdgeschoss hängen ein paar Computerausdrucke von Fotos an der Wand. Salvador nimmt einen dünnen Bambusstab, um die Szenen der Straßenschlacht gegen die Guardia des Diktators Somoza zu erklären. In León begann der Kampf gegen den von den USA gestützten Staatsverbrecher, und diese Stadt war die erste, die sich zur diktaturfreien Zone erklärte. Außer den Fotos hat Salvador noch seinen Körper zum Herzeigen. Hinter einer Tür, geschützt vor den Blicken zweier anderer Besucher, zieht er das Hemd über die Schulter, Narben in der Haut. Dann lässt er die Hose runter. Seinem linken Unterschenkel fehlt die Wade. Ein Durchschuss hat den Muskel mitgenommen. Die Wunde ist zu einer schwarz gefärbten Schrunde zusammengezogen. Salvador geht schwer, doch der Stolz, die Missbraucher der Macht bezwungen zu haben, macht ihm die Behinderung leichter. "Eine Diktatur wie jene, die wir unter Somoza erlebt haben ist in Nicaragua nicht mehr möglich", sagt er. Das politische Bild des Landes ist neu gemalt worden, doch die Armut ließ sich dadurch nicht vertreiben. Auch Salvador leidet daran. Er hat Agrarwissenschaften studiert und findet keine Anstellung. Die Versehrtenrente reicht gerade, um Strom und Wasser zu zahlen. Ansonsten ist Salvador darauf angewiesen, dass Touristen ihm ein paar Cordoba schenken, wenn er von der Befreiung Leóns erzählt