Zum Einkaufen radeln
Zweiter Tourbericht vom 21. Oktober 2001: Aberdeen - Newport
Hinter Aberdeen verfolgen uns Holztransporter. Diese Lastkraftwagen bestehen aus einem Führerhaus
mit angehängter Gabel. Fahren sie ohne Ladung, legen die Lkw-Kapitäne den hinteren
Teil ihres Zuges auf die Zugmaschine. Waren die Lkw im Wald, haben sie zwanzig oder mehr Stämme
geladen. Dann rauchen die Auspuffrohre und von den Bäumen fliegen Rindenstücke auf
die langsamen Radfahrer, die hinter den röhrenden Riesen zurückbleiben.
Die Straße, jetzt ist es längst der Highway 101, dem wir bis zum Ende Kaliforniens
folgen werden, windet sich durch Nadelwälder und Hügel, deren Flanken mit industrieller
Präzision von der Holzwirtschaft besetzt sind.
Wir radeln über die Hügel, mal regnet es wenig, dann mehr, mal verstummt das Pladdern
auf den Kapuzen unserer Jacken. Warm wird es nicht. Wir erreichen Raymond, ein Ort, der um
den Highway herum geklebt wurde. Unser Hunger macht es möglich, dass wir eine der berüchtigten
Hamburger-Schnell-Röstereien anfahren, weil sie zwei Burger für zwei Dollar verspricht.
Eingeweichte Holzspäne zwischen Badeschwämmen schmecken vermutlich nicht anders,
geben aber mehr Ballaststoffe. Dieses Futter reicht nicht einmal, um uns auf den Sattel zu
bewegen, geschweige zum Trampeln zu überreden. Bernd macht sich auf, einen Supermarkt
mit angeschlossener Kühltheke zu suchen. Er fällt einem fernöstlichen Ladenhüter
in die Finger, der sich angesichts des Fahrrads zwar freundlich nach dem Weg erkundigt, mit
Sandwiches aber nicht helfen kann. Er deutet auf ein Häuflein Burritos. Die Begeisterung
der Hungrigen setzt nach dem ersten Bissen aus.
Kurz vor dem schnuckeligen Städtchen South Bend halten wir vor einem "Farmers Shop".
Elisabeth und Benedikt begutachten die Ware, Kerstin und Bernd bleiben an der Straße
stehen. Von hinten braust ein Radfahrer heran. Er zieht die Bremse. Sein Rad steht auf schmalen
Reifen, als Gepäck führt er mit sich, was bei uns in einer der Vordertaschen Platz
hat. Nein, sagt er, die Küstenstraße ist viel zu langweilig. Er suche sich lieber
Straßen, die nicht in Landkarten verzeichnet sind. Henry Kingman kommt aus San Francisco,
und er weiß nicht, wohin er demnächst fahren wird. Sein Ziel für diesen Abend
kennt er. "Ich bin in Eile, weil ich noch 47 Meilen fahren möchte, einer meiner Freunde
wohnt in der Nähe von Chinook, dort will ich übernachten." Die Uhr zeigt vier,
in diesem Landstrich wird es im Herbst gegen halb sechs dunkel. Henry zieht ein Buch aus seiner
Packtasche. Es ist der Star-Reiseführer für die Radroute an der Pazifikküste.
In Kerstins Loseblattsammlung, die sie aus mehreren deutschen Führern zusammengestellt
hat, ist das Buch als "Godfather of this trip" vorgestellt worden. Henry schenkt
uns das Buch. Er schreibt seine Adresse vorn rein, dann drischt er davon, ein halbes Kilo leichter.
Wir dagegen haben Gewicht gewonnen, und Kerstin eine Lektüre für die morgendlichen
Klogänge, bei denen sie jeweils die Details der anstehenden Etappe auswendig lernt. Später,
in San Francisco, fällt ihr in einem Café die Radlerzeitschrift "Tube Times"
in die Hand. Unter einem Artikel, der sich mit Radfahrerpolitik in der Stadt befasst, steht
der Autorenname: Henry Kingman.
Arbeiten die Washingtoner Küstenbewohner nicht im Wald, sind sie mit der Aufzucht von
Austern beschäftigt. Hinter South Bend reihen sich diese Wasserfarmen an der Küste
und ein Ort auf einer vorgelagerten Halbinsel heißt "Oysterville". Wir suchen
einen Platz zum Schlafen, und ein Hinweisschild weist uns auf eine kleinere Landnase, die ebenfalls
nur dank der Austern bewohnt ist. An der Spitze liegt eine Siedlung, und dahinter ein Wäldchen,
in dem sommers wohl Menschen campen. Der Sommer ist vorbei, die Klos und Duschen sind verschlossen
und in keinem der umliegenden Häuser wohnt jemand, der wen kennt, der den Schlüssel
auftreiben kann. Wir finden einen ehemaligen Hochseesteuermann, der seit einigen Monaten in
einem Haus wohnt, dessen Wohnzimmerfenster einen unverschämt intimen Ausblick auf den
Pazifik geben. Er bietet an, aus seinem Feuerholzvorrat zu nehmen. Wasser bekommen wir von
einer jungen Mexikanerin, die im Haus daneben wohnt. So weit, so kalt die Nacht. Wir packen
am Morgen zusammen und sehen den Seebären auf uns zustapfen. Er raucht genüsslich
seine zu fest gedrehten Zigaretten, erzählt von der Lotsenarbeit auf dem Panamakanal und
hält uns vom Fortkommen ab. Als sein Interesse an der einseitigen Unterhaltung erlahmt,
bietet er an, die Wasserflaschen in seiner Küche aufzufüllen und dann geht er. Wir
fahren zu ihm, in der leisen Hoffnung, er möge einen Kaffee aufgesetzt haben, doch gefehlt.
Zwei Liter Leitungswasser gibt er, dann stoßen wir in den Regen.
Am späten Nachmittag, der Regen hat zum zehnten oder elften Mal nachgelassen, kommt die
Brücke nach Oregon in Sicht. Eine sechs Kilometer lange Straße auf Stelzen, die
flach über den Columbia River geht und im letzten Drittel in einem Bogen ansteigt, um
Platz für Frachtschiffe zu machen. Wir nehmen diesen künstlichen Berg keuchend und
lassen die Stadt Astoria (soll sehr schön sein) an der linken Straßenseite liegen.
Richtung Warrenton müssen wir eine zweite Brücke passieren. Diesmal packt uns der
Regen richtig, weil er uns schutz-, baum- und hügellos erwischt. Auf den Handrücken
fühlt es sich an, als sei sogar eine Portion Hagel dabei. Eine scharf begrenzte Wolke
hat uns dieses Geschenk verabreicht. Sie zieht vorbei, und dann grüßt Oregon mit
einem doppelten Regenbogen.
Für frische Fische kommen wir fünf Minuten zu spät in Warrenton an. Die Racoons
allerdings sind noch wach. Am Stevenson State Park, den wir im Schein unserer Fahrradlichter
erreichen, schauen uns blitzende Augen aus den Büschen bei der Bereitung der Schinkennudeln
zu. Wir missverstehen das Funkeln als putziges Tierverhalten und rechnen nicht mit der dreisten
Verfressenheit der Viecher. Bernd schnappt sich die Digitalkamera, um seinen Ruf als Tierfotograf
zu festigen, und Beweise für die Naturnähe der Tour zu sammeln. Dann gehen wir, das
Geschirr und uns zu waschen, und derweil gehen die Waschbären an unsere Essensvorräte.
Wir hatten in Port Angeles zwei Plastikdosen gekauft. Einer der verflixten Racoons, die wir
aus Trotz nur noch Cancuns nennen, schlägt seine Hauer in einen der Deckel und schafft
es tatsächlich, die Box zu öffnen. Ein halb ausgezogener Benedikt springt dem felligen
Ferkel hinterher und ringt ihm die Nahrung ab.
Die Sonne macht uns das Aufstehen leichter, beschleunigt die Packvorgänge jedoch nicht
wesentlich. Bis Seaside rollen die Räder wunderbar leicht. Dort entern wir eine Shopping-Mall,
weil für die abendlichen Camping-Koch-Sitzungen eine benzingetriebene Lampe wunderbar
wäre. Bisher haben wir nur große Exemplare gefunden. Nichts für unser schmales
Gepäckbudget. Auch diesmal führen die Läden kein passendes Angebot, dafür
schenkt uns Bill, ein Verkäufer, ein batteriefressendes Ungetüm namens Snake-Light,
das man sich zum Zwiebelschneiden und Häringeinschlagen um den Hals legen kann.
Später wird die Strecke hügeliger und gibt Ausblicke auf das Meer frei. Vor uns radelt
ein schwer beladener Mensch. Wir kommen ihm näher, und bei einem Aussichtspunkt haben
wir ihn eingeholt. Etienne ist mit seinem Freund Simon nach Ushuaia unterwegs. Simon hat auch
seine Mama dabei, sie will die Tour bis zur Südgrenze Oregons begleiten und dann heim
nach Montreal fliegen.
Oregon scheint uns viel lieblicher als Washington. Sandstrände wechseln mit steiler Küste
und immer wieder müssen wir die Straßen hinaufklettern, werden oben jedoch mit spektakulären
Ausblicken auf die schäumende Brandung belohnt. Für die Nacht steuern wir Nehalem
Bay an. Wir sind früh genug, um Fisch kaufen zu können. Die Zelte trocknen in der
Brise, und wir steigen über die Dünen. Dort liegt der Pazifik. Er ist in sich zurückgezogen
(Ebbe) und interessiert sich nicht dafür, dass wir ihn während der kommenden anderthalb
Jahre abfahren werden.
Das Meer schluckt den Abendsonnenball und schickt Wind. Uns vergehen die hehren Gedanken und
wir beginnen, ein Vier-Dollar-Bündel feuchtes Feuerholz zu entzünden. Dann legen
wir ein Dutzend Austern in die Glut, wie es die Verkäuferin befohlen hatte. "So lange,
bis sie sich geöffnet haben", hatte sie gesagt. Vier der Schalen sperren schnell
die Schnäbel auf, doch bei den anderen tut sich nichts. Liegt das an der Dunkelheit oder
an unserer Dummheit? Die Austern liegen wie Steine in der Asche, bis wir zum Messertrick greifen.
Gerade noch rechtzeitig, sie sind schon ein bisschen zu sehr al dente, aber sie schmecken hervorragend
- ein Spritzer Zitrone, und fertig. Zweiter Gang: Fischschaschlik aus Lachs, Red Snapper und
Sand Dab mit Zwiebeln und Paprika auf Radspeichen gezogen. Die Glut schwächelt, wir müssen
nachlegen, der Gang verzögert sich, wir sind doch nicht im Waldorf-Astoria.
Der erste Halt des kommenden Morgens ist in Tillamook, der Käsestadt Oregons. Doch diesmal
gilt unser Interesse nicht der Nahrung, sondern einem Allzweck-Sportladen. Wir suchen eine
Radlunterhose für Kerstin, die sich in Deutschland konstant geweigert hatte, mit gepolstertem
Hintern zu fahren, und jetzt über gerötete Bäckchen klagt. Doch Radlunterhosen
gibt's hier nicht, hier gibt's: Eine Teleskopangel (24 Dollar), zwei Kerzenlämpchen (je
12 Dollar) und eine Alukaffeekanne (9,90 Dollar). Das Fass hängt seither an Benedikts
Hinterladung und lässt bei jedem Hüpfer ein lustiges Scheppern erklingen.
Während dieser Kaufwutphase von Benedikt und Bernd sitzen am gegenüberliegenden Straßenrand
die zwei Kanadier, wir nennen sie "Canadian Harmonists", und flicken den zweiten
Platten des Tages in Etiennes Anhänger-Reifen. Im einzigen Fahrradladen Tillamooks, der
eigentlich ein Fachhandel für motorisierte Zweiräder ist, erhalten wir ebenfalls
keine Polsterhose. "Sowas brauchen Amerikaner wohl nicht", schimpft Kerstin, "weil
sie ihre Fahrräder auf den Campern spazieren fahren und höchstens für die dreißig
Meter zwischen Standplatz und Toilette losbinden."
Der Campingplatz am Cape Lookout liegt einige Meilen vom 101 entfernt. In Tillamook hatte uns
eine blonde Polizistin diesen Platz wegen seiner exorbitanten Schönheit ans Herz gelegt.
Schön ist er vielleicht, aber sicher nicht mondän. Die Duschen: geschlossen. Das
Wasser aus dem Hahn: kalt. Feuerholz: Fehlanzeige. Wir suchen mit Mühe einige Späne
zusammen und kochen unser Mahl trotzdem.
Die Pilze zum Reis scheinen uns Kraft gegeben zu haben, denn am folgenden Tag holen wir den
Streckenrekord. 112 Kilometer bis South Beach nahe Newport. Die Anstrengung haben wir geschultert,
weil wir auf diesem Campingplatz zum ersten Mal einen Pausentag einlegen wollen. Die Strecke
verläuft nicht einmal an einem geraden Küstenstück, sondern wir müssen
gleich morgens einen erheblichen Buckel bewältigen. Am Ausgang des Campingplatzes steht
ein Ranger. Er fragt, wo es hingehen soll, und als Kerstin antwortet, das Ziel sei Südamerika,
meint er, wir könnten es wohl bis Newport schaffen.
Hinter Lincoln City, wir essen einen Hamburger, zieht Nebel über die Küste hinauf
und mit ihm kommt Kälte und Dunkelheit. Wir lassen nicht von unserem Ziel ab. Auch hier
hilft uns nur künstliche Beleuchtung. Dieses Newport nimmt uns nicht freundlich auf. Vier
schockgefrostete Gestalten müssen in drei Geschäften einkaufen gehen, bevor sie die
Siebensachen für Frühstück und Abendessen beieinander haben. Irgendwann steht
unser Zelt, wir liegen drin und genießen das wunderbare Gefühl, zwei Tage nicht
auf den Bock steigen zu müssen.