Chile, der Länge nach

26. Reisebericht vom 9. Dezember 2002 San Pedro de Atacama/Chile - Puerto Montt

                   

Die Chilenen wundern sich über ihr Land. Seine Wurmgestalt liegt eingeklemmt zwischen Pazifik und Anden. Das Land ist eine Schneide des Pfeils, mit der die belebte Erde auf die Antarktis deutet. Die Chilenen haben ein Stück der Schöpfungsgeschichte umgedichtet, um ihre Heimat zu erklären: "Als Gott die Erde und alles was auf ihr lebt geschaffen hatte, sah er, dass viele Teile übrig geblieben waren: Inseln, Gletscher, Vulkane, Berge, Hügel, Wiesen, Flüsse und Wüsten. Er nahm die Reste und fügte sie zusammen." Die Nachtschicht am sechsten Schöpfungstag hat sich gelohnt, finden wir. Die Atacama-Wüste im Norden ist eine der trockensten Gegenden der Erde. Aus dem Südwesten Boliviens sind unsere Augen an Steinfelder gewöhnt, die vom Wind gekühlt, von der Sonne wieder und wieder aufgebacken werden. Auf dieser Seite der Anden fahren wir durch dieselbe Landschaft, doch hier scheint sie endloser. Wo Wasser an die Oberfläche tritt, bildet das Grün scharf umrissene Flecken, wie San Pedro einer ist. Als wir uns dem Dorf nähern, sehen wir die Laubkronen der Bäume und viel später die Hausdächer. Calama, die nächste Insel, liegt 110 Kilometer entfernt. Hinter San Pedro streckt sich ein Ausläufer der Cordillera de Domeyko und schickt uns an rosaroten Felswänden entlang aufwärts.

         

Vom Kamm neigen sich die Hänge in eine Senke, flach wie die Schüssel eines Goldwäschers. Die Straße zieht einen geraden Strich bis zu ihrem Boden und kurvt auf der anderen Seite nach rechts. "Tal der Geduld" steht auf dem Schild, an dem wir vorbeifahren. An unserer schleichenden Bewegung und an den Autos, die trotz Vollgas nicht von der Bildfläche verschwinden, nehmen wir die Tiefe der Landschaft wahr. Die dunstfreie Luft verharmlost die Entfernung. Der Wind weht zum Abend kräftiger. Wir könnten bis Calama fahren, 30 Kilometer weiterstrampeln, es wird lang genug hell bleiben. Andrerseits reizt uns eine Nacht in der Wüste. Wo sollen wir das Zelt aufbauen? Schotterebene, so weit wir sehen. Der Wind hat die Hügel geschliffen, und fegt ohne Mühe um alle Seiten. Etwa einen Kilometer seitwärts der Straße haben Arbeiter Kies und Sand aufgeschüttet. Hinter einem der Haufen stellen wir uns in die Schürfspur einer Baggerschaufel. Die Häringe wackeln im sandigen Untergrund, wir beschweren die Zeltschnüre mit Steinen. Das Nylon knattert, wir sitzen auf den Packrollen, hören den Benzinkocher fauchen, den Sand rieseln, die Böen pfeifen. Die wenigen Autos, die auf der Straße Lichtkegel vor sich herschieben, stören nicht. Über Chuquicamata, der Stadt, die am Rand der größten Kupfermine der Welt entstanden ist, steht grauer Staub. Die Chilenen nennen den Ort, an dem tausende Arbeiter täglich zehntausende Tonnen Fels und Geröll umwälzen, zärtlich "Chuqui". Die Mine wird noch Jahrzehnte ein Garant für Wohlstand sein, nirgendwo im Land erzielen Arbeiter ähnlich hohe Löhne. Dafür nehmen sie in Kauf, dass die steinhaltige Luft die Lungen ihrer Kinder krank macht. Wir fahren an der Zufahrtsstraße zur Mine vorbei nach Calama hinein. Vier Banken stehen zur Auswahl, sie alle besitzen einen Geldautomaten. Im Supermarkt schieben Kunden ihren Wagen mit einer Hand, weil die andere vom Handy belegt ist. Die Mädels tragen T-Shirts, die über dem Piercing im Bauchnabel enden. Sind sie vorbeigegangen, bleibt ein Parfümschleier über dem Bürgersteig zurück. Wir schnuppern, wir schauen uns um, versuchen, die Selbstverständlichkeit, in der das alles geschieht, selbstverständlich zu finden. Doch die Wüste, einen Spaziergang entfernt und zu tief in unseren Köpfen, hindert uns. Calama ist der Wendepunkt unserer Südamerikatour. Von hier ab werden wir mit geteiltem Staunen unterwegs sein. Die Gewalt der Landschaft, wird uns unvermindert überwältigen, in den Städten werden wir zu Hause sein. Am Ausgang der Stadt füllen wir an einer Tankstelle Wasser nach und treten dann gegen den Wind an, der von der Küste heraufkommt. Der Versuch, die Wüste zu durchqueren wird nach 20 Kilometern von Bernds Hinterachse gestoppt. Das Rad hatte schon in Bolivien begonnen, unrund zu laufen. Wir waren zum einzigen Geschäft des Landes gefahren, in dem halbwegs vernünftige Fahrräder und ihre Ersatzteile verkauft werden. Der Mechaniker nahm die Nabe auseinander, sah, dass einiges darin verbogen war, schraubte sie wieder zusammen und erklärte, mit dem Rad würden wir noch sehr weit kommen. Trotz seines Trostes waren wir nicht wirklich beruhigt, sondern hatten Max, den Radhändler in München, gebeten, eine neue Achse nach Santiago de Chile zu schicken.

         

Wir stehen in der Wüste. Die Achse knurrt bei jeder Drehung. Um unserer Bewegungsunfähigkeit eine sportliche Note zu geben, beschließen wir, per Autostopp weiterzufahren. Von weitem sehen wir, wenn sich ein Auto nähert. Es ist schwierig, aus der Frontansicht zu erkennen, ob es ein Pick-up ist, auf dessen Ladefläche unsere Räder Platz hätten. Wir wecheln uns ab beim Daumenzeigen. Zuerst hält ein Fiat, in dem vier Leute hocken. "Können wir Ihnen helfen?" Bernd erzählt, dass eines der Räder kaputt ist, wir nicht weiterfahren können und mitgenommen werden wollen. "Es ist sehr nett, dass sie angehalten haben, aber ich glaube, der Wagen ist zu klein." Der Fahrer nickt. "Ja, bei uns passen sie nicht rein, aber hier, nehmen Sie eine Erfrischung." Er reicht drei Orangen aus dem Fenster. Wir kühlen unsere Zungen am Fruchtfleisch, der Saft rinnt übers Kinn. Die Chilenen sind wahnsinnig nett. Dann stoppt Mario. Er fährt einen Lkw Richtung Antofagasta, hat eben eine Ladung Sprengstoff nach Chuquicamata gebracht. Auf dem Anhänger wirken die Fahrräder winzig. Durch die Windschutzscheibe, drei Meter über der Fahrbahn, genießen wir die Perspektive. Wir gucken auf Autos hinunter, mit denen wir sonst Kopf an Dach sitzen. Mario redet wenig, doch er gibt uns die chilenische Auffassung von Spanisch zu spüren. Wir haben das Gefühl, einer unbekannten Sprache ausgeliefert zu sein. Das macht uns schweigsam. Die Atacama hat keine Neigung, sich dem Ozean zu nähern. Kurz bevor die Ebene an den Pazifik stößt, endet sie. Das Land stürzt mehrere hundert Meter hinunter auf Meeresniveau und lässt einer Bucht Platz. Auf dem Saum zwischen Hang und Ufer wurde der Hafen von Antofagasta angelegt. Mario lässt uns am Ende der Zufahrtsstraße aussteigen. "Rechts rum gehts zum Zentrum", sagt er. Wir schieben. Bernds Hinterachse knirscht. In chilenischen Städten sind Hochhäuser selten. Diese Eigenheit macht uns Antofagasta sofort sympathisch. Wir gehen an bunt gestrichenen Holzfassaden vorbei, die Blechdächer bleiben auf Sichthöhe.

         

Im Zentrum ist der Raum enger, doch auch hier bestimmt Gemütlichkeit die Architektur. Am Ende der Arturo Prat sehen wir das Meer glitzern, die untergehende Sonne lässt das Wasser leuchten, dort beginnt der Rest der Welt. Kerstin will den Wellen so schnell wie möglich ganz nah sein. Wir sperren die Fahrräder in das Hotelzimmer und laufen hinunter. Die Straße endet an einer Eisenwand, dahinter stehen die Container und Kräne des Frachthafens. Links beginnt der Malecon und hinter einer hüfthohen Mauer klatscht der Pazifik Schaum an die Steine der künstlichen Uferböschung. Salz tropft in unsere Gesichter. Hunde schnüffeln an kürzlich gepflanzten Bäumen. Ein Pärchen bleibt stehen. Umarmt, küsst sich, geht weiter. Die Sonne zeichnet eine rote Straße, direkt auf uns zu. Das Meer wird grau, später die roten Wolken. Die Nacht zieht auf.

         

In Antofagasta sind die Lichter angegangen. Der Eingang zum städtischen Markt leuchtet warm. An einem der Stände servieren die Kellnerinnen "Cazuela de marisco". In der tomatenroten Suppe schwimmen Muscheln und Fischstücke, Kartoffeln und Zwiebeln. Im Morgenlicht wirkt der Malecon weniger romantisch. Vielleicht liegt das daran, dass wir das Meer schon am Abend begrüßt haben. Fast zehn Kilometer laufen wir mit den Rädern aus der Stadt hinaus, bis zur Kaserne, hinter der die Straße durch eine Schlucht zur Wüste hinaufführt. "Dieser Lastwagen wartet auf uns", sagt Kerstin. Er steht verlassen auf einer Parkbucht, vielleicht macht der Fahrer Mittagspause. Wir lehnen die Räder an Steine in der Nähe und strecken die Daumen, sobald ein geeignetes Auto die doppelspurige Straße heraufkommt. Niemand scheint Lust zu haben, zwei bepackte Fahrräder aufzuladen. Es bleibt nicht genug Zeit, uns in Ärger zu warten, weil der Fahrer des abgestellten Lkw anspaziert. "Los, den fragen wir!" Der Mann wiegt den runden, fast haarlosen Kopf, nimmt dann das Schloss von der Flügeltür. Vor uns geht ein Container auf, 24 mal drei Meter, ein Appartement auf Rädern, einladend leer. "Wir können ohne Probleme hinten mitfahren." "Aber wenn ich die Tür zumache, wird es sehr dunkel!" "Macht nichts, wir haben eine Taschenlampe." Der Riegel knirscht, es ist still. Wir erwarten, den Motor zu hören und dann das Schwanken zu spüren, mit dem der Lkw anrollt. Es bleibt still. Statt dessen öffnet sich die Tür. "Besser, ihr kommt nach vorn, dort ist genug Platz." "Ich heiße Raúl." Der Fernfahrer versucht, unsere Hände mit einem Griff zu zerdrücken. Sein Arbeitsplatz ist die Ruta 5 zwischen Antofagasta und Santiago de Chile. Seit mehr als 20 Jahren fährt er durch die Atacama, hat jeden Felsen viel zu oft gesehen, jede Kurve tausendmal gelenkt. Nimmt er Anhalter mit, hat er ein Geschäft im Sinn. Sie sollen mit Gespräch für den Transport bezahlen. Draußen flitzen die Wüstensteine vorbei und drinnen erteilt ein stolzer Chilene Sprachunterricht. Unser Spanisch versagt. Raúl lacht. "Wenn Ihr mich versteht, dann könnt ihr wirklich behaupten, ihr versteht etwas vom Castellano!" Die Chilenen sind dabei, eine eigene Sprache zu basteln, und benutzen das Spanisch allenfalls als Anregung. Sie haben jede Menge Vokabeln erfunden, die weder im Wörterbuch auftauchen noch außerhalb der Landesgrenzen verstanden werden. Es hilft, dass viele der Worte in fast jedem Satz vorkommen. "Arto" zum Beispiel. In den anderen Ländern Lateinamerikas sagt man "bastante", "viel". "Bastante frio." "Sehr kalt." In Chile sagt man "arto", und sobald wir dieses Wort entschlüsselt haben, sind wir Raúl auf der Spur. "Pololo" heißt auf Spanisch "novio", also Freund in einer Paarbeziehung. Das Mädchen wäre in diesem Fall die "polola", und wer das nicht kapiert, ist ein "huevon", was man wohl am besten mit "Eierkopf" übersetzt, ein Mensch von der Sorte, die nicht die hellsten sind, aber trotzdem ganz nett. "Huevon" kann auch etwas ganz anderes bedeuten, eigentlich ist die ganze Welt "huevon". "Mucha, mucha gracia, Raúl." Wir müssen grinsen, denn damit haben wir, ohne es wirklich zu wollen, einen der schärfsten Tricks chilenischer Zungen benutzt. Mit nachlässigen Zähnen beißt man hier die End-"s" von den Worten. Wir vermuten, Chilenen können nur ruhig einschlafen, wenn ihnen den ganzen Tag kein "s" über die Lippen gekommen ist. Chilenen haben gewiss einen ungestörten Schlaf. Raúl belohnt unsere Bemühungen, indem er nach einigen Stunden beginnt, etwas mehr Platz zwischen den Worten zu lassen. Wir erfahren von seinen Kindern, seiner Frau, die das Haus in La Serena hütet. Der Fernfahrer ist zufrieden mit seiner Arbeit, die ihm im Monat etwas mehr als 1.000 Dollar einbringt. Auf der Straße stört ihn kein Chef, nervt kein Kollege. Die fahren auf der Gegenfahrbahn. Gesichter, Blickkontakt für Sekunden, ein Winken. Hat Raúl Lust auf eine Mini-Unterhaltung, schreit er ein paar Worte ins Mikro des Funkgerätes. Er lauscht dem Rauschen, durch das eine Stimme klingt. Wir verstehen kein Wort. Raúl fand den Witz gut, lacht funkgerecht "Ho ho ho." Und verabschiedet sich: "Claro, nos vemos, listo." Wobei das wieder chilenisch klingt: "Claro no vemo, lichto", oder so ähnlich, auf jeden Fall garantiert "s"-frei. Die Nadel steht über dem Strich, der 90 Stundenkilometer anzeigt. Sie zittert nicht, weil Raúl mit Tempomat fährt. Ist sein Lkw in Schwung, bleibt er dabei. Pkw überholen in flachem Bogen. Manchmal rollt Raúl von hinten auf einen ältlichen Kleinlaster zu, der das Geschwindigkeitslimit nicht mehr erreicht. Raúl drängelt nicht, das wäre unsinnig auf einer Straße, die ihm gehört. Er zieht vorbei, abgezirkelt, wie ein Schlittschuhläufer einen eingefrorenen Weidenstumpf umfährt. Wir fühlen schneller, als wir begreifen, was diese Form der Fortbewegung einzigartig macht. In erster Linie unterscheidet nicht die Geschwindigkeit Radler von Lastwagenfahrern. Es ist die Bewegungslosigkeit, unter der die Kilometer hindurchgleiten. Nur Lkw haben dafür die nötige Masse. Wir essen Schokokekse, während eine mehrfarbige Felswand in eine Ebene niedergeht, dort hat ein Vulkanisierer seine Werkstattbaracke gebaut. Bevor wir die Autoreifen zählen können, die an der Zufahrt liegen, sind wir vorbei, zu weit, der Rückspiegel zeigt keine Details mehr. Ein Hinweisschild, sonst eine Landmarke, auf die wir minutenlang zufahren, ist nicht mehr als ein grünes Viereck am Fahrbahnrand, wächst, flippt vorüber. Ein neuer Keks aus der Packung, ein neuer Kilometer, keine Attraktion zwischen den Steinen. Nach einiger Zeit interessieren uns nur noch die Besonderheiten, die Augen hüpfen, motorgestützt, von Hügelspitze zu Hügelspitze. Das Dazwischen ist Leere, als wenn die Landschaft weiße Flecken bekommen hätte. Wir werden müde, doch Raúl hält uns unter Gesprächsdruck, bis wir Vallemar erreichen. Eine Kreuzung, zwei Tankstellen, ein Motel und schräg gegenüber ein Platz aus staubigem Schotter. "Morgen früh um sechs werden wir weiterfahren, schlaft gut", sagt Raúl, bevor er die Tür zum Führerhaus schließt. Wir liegen im Anhänger neben den Fahrrädern, ebenso bequem wie der Kapitän vorn, und hören den Lkw-Fahrern zu, die mit anderen Fahrplänen durch die Nacht unterwegs sind. Raúl ist fast zu Hause und mit lebhaften Zeigefingern macht er auf die Höhepunkte seiner Heimat aufmerksam. Die Silberkuppeln der Observatorien "La Silla", "Mamalluca" und "El Tololo" sitzen auf den Bergen. "Dorthin fahren viele Touristen", sagt Raúl. Er bleibt lieber in den Tälern, wo man gut jagen kann, weil in Wäldern und Wiesen jede Menge Hasen und Vögel leben. "Chile ist ein schönes Land, und die Region Coquimbo ist sein schönster Teil." Gegen Mittag erreichen wir die Stadt. An einer Tankstelle hilft Raúl, die Fahrräder abzuladen. "Ich weiß noch nicht, wann ich nach Santiago weiterfahre, aber wenn Ihr die Hauptstraße hinaufgeht, werdet ihr an eine andere Tankstelle kommen, wartet dort auf mich, ich hole Euch auf jeden Fall ab." Wir trinken einen Kaffee und haben eben eine Unterhaltung mit zwei Fernfahrern begonnen, die gefrorenen Fisch von der Insel Chiloé holen werden, als Raúl anrollt. "Chiao, wir müssen weiter, war schön, Euch zu treffen." Während der sechs Stunden wird Raúls Gesicht grau. Trotz der Jahrzehnte hinter dem Lenkrad hat sich sein Körper nicht an die Monotonie gewöhnt. Die Pausen im Gespräch werden länger, wir denken uns allerhand noch nicht gefragte Fragen aus, um ihm ein bisschen zu helfen. Vor Santiago kommt die Ablenkung vom Verkehr, Raúl muss öfter auf die Bremse treten, am Lenkrad drehen. "Wirst Du ein paar Stunden ausruhen?" "Nein, ich nehme die Ladung auf, und dann gehts sofort zurück, noch ein paar hundert Kilometer." Für eine lange Verabschiedung hat er keine Zeit, wir stehen an der Straße und winken dem weißen Flügeltor hinterher, den Spiegeln, über die Raúl vielleicht zu uns zurückschaut. Wir laufen nach Santiago de Chile hinein. Der abrupte Wechsel von Autofahrern zu Fußgängern macht uns die Größe der Stadt deutlich. Durch die Abgaswolke, die über den Häusern liegt, dem Heiligenschein einer Metropole, sehen wir schneegefleckte Andengipfel. Hier im Tal packt uns Sommerhitze, die vom Smoggeschmack gefüttert wird. Unsere kanadischen Freunde Marie-Eve und Simon haben ihre Südamerikareise für ein paar Monate in Santiago unterbrochen, um Geld zu verdienen. Wir wollen sie auf der Plaza de Armas treffen. Straßenverkäufer tragen Kartons mit Stieleis. "Helados, helados!" Tauben picken nach Krümeln, fliegen zwischen Pflaster und Baumkronen hin und her.

         

Die Zierbrunnen plätschern. Mütter halten ihre Kinder davon ab, in die Wasserbecken zu fallen. Wir setzen uns auf die Einfassung einer Bauminsel und schauen den Hauptstädtern bei ihren Pausen vom Stadtbummel zu. Ein Mann bleibt stehen. Die Kappe eines Füllfederhalter lugt aus dem Brusttäschchen der Anzugjacke, er trägt das graue Haar zurückgekämmt. "Dedonde vienen?" "Somos Alemanes." Und er macht auf Deutsch weiter. "Hier in Santiago lebt eine sehr große deutsche Gemeinde." Hector hat im Goethe-Institut Deutsch gelernt. "Als die Schule in Santiago eröffnete, habe ich mich für den ersten Kurs angemeldet." Lob wehrt er mit einer Handbewegung ab: "Meine Lehrerin hat immer gesagt, ich würde zu viele Fehler machen." Der Mann ist auf dem Weg in sein Büro bei der Zeitung "El Mercurio". Das konservative Blatt beschäftigt noch Lektoren. Hector ist einer von ihnen. "Woran liegt es, dass wir als Ausländer uns so schwer tun, das chilenische Spanisch zu verstehen?" "Ganz einfach, meine Landsleute sprechen fürchterlich. Ich habe kürzlich eine Studie gelesen, nach der ein Teil der Einwohner Santiagos mit 200 Worten im aktiven Sprachschatz auskommen. Aber das ist eine Entwicklung, die nicht nur in Chile, sondern auf der ganzen Welt beobachtet wird." Wir reden noch eine Weile über dies und das, dann kommen Marie-Eve und Simon. Der alte Lektor verabschiedet sich. Die Kanadier wohnen bei einer Familie in einem Arbeiterviertel nah am Zentrum. Wir beziehen das Nachbarzimmer. Gladys hat die Wohnung vor einigen Monaten gekauft, mit ihren erwachsenen Söhnen benutzt sie nur einen Teil, die übrigen Räume vermietet sie an Studenten oder Reisende, die länger in der Hauptstadt bleiben. Gladys möchte die Mama aller Untermieter sein und lässt sich auch gern so nennen. Dafür nimmt sie sich das Recht, erzieherisch tätig zu werden. Wenn sie gewusst hätte, dass wir nicht verheiratet sind, hätten wir das Zimmer nicht bekommen. Auch von Marie-Eve und Simon hat sie erst später erfahren, dass sie unverheiratet sind. Gladys ist Zeugin Jehovas und nimmt die Aufgabe sehr ernst, ein Wachturm im Strom der Millionenstadt zu sein. Ihre Arbeitszeit im Büro beginnt am Nachmittag. Morgens verlässt sie das Haus im grauen Kostüm, ein Packen Himmelreichsprospekte in der Handtasche, um den Missionsdienst an der Straße zu absolvieren. Marie-Eve und Simon kellnern in einem irischen Pub. An guten Abenden verdienen sie zwischen acht Uhr abends und vier Uhr morgens jeweils 25 Dollar, drei Viertel davon sind Trinkgeld. Außerdem gibt Marie-Eve Französischunterricht. Wir sind zu einem Grillabend bei einem Schülerpaar eingeladen und fahren mit dem Bus in eines der Mittelklasseviertel, in denen die Bungalows von Dreimeterhecken umgeben sind und Bewegungsmelder auf jeden Passanten anspringen. Mauro und Isabel wollen nach Quebec auswandern. "Uns geht es zwar nicht schlecht in Santiago, aber unter Pinochet war alles viel besser", sagt Mauro. Der Berufsoffizier ist 24 Jahre alt und hat greisenhafte Ideen im Kopf. Während er sich einen Pisco nach dem anderen einschenkt, erklärt er uns seine Weltsicht. Ihn stören vor allem die Armen im Lande. "Das ist gefährlich", sagt er. "Ich habe keine Lust, meine Kinder den ganzen Tag im Haus eingeschlossen zu halten, weil ich Angst haben muss, dass sie entführt werden, sobald sie draußen spielen." Mauro hat keine Kinder. Mit seiner Frau Isabel lebt er im Haus seiner Mutter. Die Frau sitzt neben ihrem Sohn und ist ganz seiner Meinung. Sie erzählt von ihren Jahren in Holland, in denen ihr Mann dort arbeitete und sie die Zeit zum Einkaufen nutzte. "Es war nicht weit über die Grenze nach Deutschland zu Karstadt. Ich habe Karstadt geliebt", sagt sie. Mauro hat keine Lust, in Quebec zu leben. Ihm würde Europa viel besser gefallen. Doch Isabel, in einer Firma für Personalpolitik zuständig, hat Familie in Kanada und die Chance, dort eine ähnliche Stelle zu bekommen. Sie besteht auf Montreal. Mauro findet nicht genug Argumente und begnügt sich damit, den Französischunterricht zu sabotieren. Um fünf Uhr morgens ist die Party aus, die Dämmerung mischt sich ins Licht der Straßenlaternen. Der Taxifahrer fährt zügig auf der Straßenmitte. Die Autos, denen er begegnet, sind von Kollegen gesteuert, die ebenfalls frühe Kunden heimbringen. Die Straßenkehrer haben die Nachtschicht beendet. Santiago nimmt Anlauf für den kommenden Tag.

         

Wir warten auf das Päckchen mit den Ersatzteilen aus München. Morgens schauen wir im Hauptpostamt auf das schwarze Brett, an dem die postlagernden Sendungen aufgelistet sind. Danach schlendern wir durch die Viertel. Die Fußgängerzone Paseo Ahumada würde mit ihren Boutiquen und Kaufhäusern in jede andere Großstadt passen. Mehr Santiago finden wir im Barrio Brazil. Roh ausgemalte Kneipen und ein Überfluss von Che-Guevara-Bildchen täuschen billiges Studentenleben vor. Hier sind die Preise ebenso hoch wie in Bellavista, wo zwischen den Damastdeckchen der edlen Minirestaurants und bierfleckigen Kneipentischen nur wenige Schrittlängen liegen. Galerien, Ateliers und Theater, bunte Hausfassaden und Flohmarktstände erlauben dem Viertel, Bohéme zu sein. In einer Seitenstraße steht eines der Häuser von Pablo Neruda, heute Museum und geschlossen, als wir am späten Nachmittag vorbeikommen. Der Santa Lucia-Hügel, auf dem die Spanier 1541 Santiago gründeten, ist von den Hochhäusern an Avenida O'Higgins und Valdés Vergara eingerahmt, ein buckliger Grünfleck, kaum noch als Geburtsort der Millionenstadt erkennbar. Wir verlassen Santiago auf der Ruta 5, die nach Süden führt. Flache Wohnviertel, Industrieparzellen, die weichen Stadtgrenzen fließen ins Land. Die Autobahn ist das Rückgrat in dem schmalen Chile. Wer von Nord nach Süd reist, muss auf ihr bleiben. Straßen gehen zur Seite ab, eine Parallele gibt es nicht. Wir genießen es, wie flach, geteert und breit die Ruta 5 durch die Gegend zieht und nehmen für das bequeme Radeln die eintönige Aussicht in Kauf. Die ersten Weinreben wachsen auf den Feldern, später sind es mehr, und schließlich ist das Land zu beiden Seiten mit Draht überspannt. Spaliere laufen kilometerweit über die Felder, zwischen ihnen ist Platz für eine Traktorspur.

                   

Die Weinstöcke hängen gekreuzigt an den Stahlgerüsten. Jeder Pflanze bleiben sechs treibende Ästchen, festgebunden, ausgebreitet, damit die Ernte schnell geht. Uns erinnern die bis zur Unkenntlichkeit genutzten Bäumchen an kleine blättrige Soldaten, gepflanzt in Reih und Glied mit genormtem Abstand. Noch sind die Beeren grün und klein wie Linsen, doch der chilenische Sommer hat erst begonnen.

         

Was wir von der letztjährigen Ernte probieren, schmeckt lecker. Bei chilenischen Weinen, scheint uns, können wir nur zwischen gut und sehr gut wählen. Wir verlassen die Autobahn Richtung Olivar Alto. Zwei Frauen winken über einen Zaun. "Dürfen wir auf ihrer Wiese zelten?" Sie schauen sich an, dann uns, deutlich weniger fröhlich. "Ääh, ja nun, wisst Ihr, das ist nicht unser Haus wir wohnen nur hier. Also nein, zelten?" Alles klar, chaio! Ein paar hundert Meter weiter klopft Kerstin eine Familie hinterm Fernseher hervor. "Hhm, verstehen können wir Euch. Von uns aus könntet Ihr gern hier zelten, aber leider sind wir heute abend eingeladen und es wäre sicher zu ungemütlich, wenn Ihr im Garten schlaft und wir sind nicht da. Könnte ja sein, dass Ihr was benötigt, ganz überraschend!" Bernd fragt bei einer Funda. Hinter dem Haus erstreckt sich der Wein hektarweise. Eine Frau öffnet die Tür. "Ja also, ich hab hier nichts zu sagen, und ich weiß auch nicht, was die Besitzerin sagen würde, wenn sie hier wäre, aber sie ist nicht hier, und kommt wahrscheinlich auch nicht so bald wieder." Ein paar Kilometer außerhalb des Ortes hören sich zwei Frauen durch ein Tor zu einem Bauernhof den Wunsch mit leisem Kopfschütteln an. "Wir müssen den Besitzer fragen." Sie verschwinden im Haus. Minuten später kommt ein Mann und lässt sich noch einmal alles erzählen. Er überlegt. "Das ist schwierig, wissen Sie, ich hab Vieh auf der Weide stehen. Und außerdem weiß man ja nie, in welcher Absicht Fremde zu einem kommen." "Wir wollen ihren Rindern nichts tun!" "Glaub ich vielleicht schon, aber nein, lieber nicht." Auf weitere Abfuhren haben wir an diesem Abend keine Lust und bauen unser Zelt in der Wiese neben dem Dorfplatz auf. Kerstin kauft im gegenüber liegenden Gemüseladen Tomaten und kommt mit einem halben Gewürzkuchen zurück, ein Geschenk der Händlerin. Als Bernd hinübergeht, um ein paar Liter Wasser zu holen, sagt die Frau: "Sie campieren da drüben, nicht wahr? Wollen Sie bei uns duschen? Nach einem Tag auf dem Fahrrad ist so was doch angenehm, oder?" Es bleibt der einzige Abend in Chile, an dem die Campingfrage schwierig zu lösen ist. Einmal fragen wir bei der Polizei. "Wir hätten da was für Euch, aber es wird noch eine Stunde dauern, bis der Platz frei ist, dort findet gerade eine Versammlung statt."

         

In der Wartezeit dürfen wir die Küche der Station benutzen. Als wir unser Geschirr spülen, schaut ein Offizier vorbei. "Wollt ihr ins Internet?" Wir sitzen eine Stunde lang am Polizeischreibtisch und erledigen Post. Der Chef der Carabineros lässt uns von einem Streifenwagen zum Rodeoplatz begleiten. Die Beamten erklären dem Hausmeister, dass er heute Nacht Gäste in der Festhalle beherbergen wird. Wir breiten die Isomatten auf der Theaterbühne aus. Ein paar Tage später überquert ein Radler, der in die andere Richtung unterwegs ist, die Straße. "Habt Ihr schon einen Platz zum Schlafen?" Iván lebt auf dem Weingut "Barros Negros", und er skizziert den Weg auf einem Zettel. "Fragt nach Carmen oder Gladys, die Hausmädchen werden Euch das Zimmer zeigen."

                   

Obwohl Iváns Zeichnung unmissverständlich ist, fahren wir an dem Schloss vorbei. "Schau Dir dieses Haus an, da würde ich gern mal wohnen", sagt Bernd. Innen wirkt es noch viel großartiger als von außen. Iván führt uns ins Gästeappartement. Die Stuckdecke hängt vier Meter über unseren Köpfen, die Betten sind groß genug, um Verstecken darin spielen zu können. Der Hausherr freut sich über unser Staunen. Beim Abendessen, wir sitzen mit Iván und seiner Frau Loubna im Speisezimmer, erzählt er, dass seine Mama ihm noch immer nicht alle Räume der Funda gezeigt hat. "Sie sagt, ich solle noch ein paar Überraschungen erleben, wenn ich den Besitz endgültig übernehme." Vor dem Essen hatte Iván uns durch den Speisesaal und in das Gesellschaftszimmer geführt. Der Lüster verteilt von weit oben bernsteinfarbenes Licht über Wandteppiche und Familiengemälde. Die weißen Schonbezüge auf Sofas und Sesseln lassen die vergoldeten und geschnitzten Holzfüßchen der Möbel frei. Hinter geschliffenem Vitrinenglas stehen Türme von Porzellantellern, Tassen, Terrinen, Schüsseln, Porzellanmännlein halten Porzellanfräulein in Tanzpose. Schwerer Gardinenstoff fällt in Falten vor den Fenstern, die von außen mit Holzläden verschlossen sind. "Das Haus ist wirklich sehr schön", sagt Iván. Er nimmt seit einigen Jahren Radler bei sich auf, wenn er sie auf der Straße trifft. Iván weiß, wie willkommen Einladungen sind. Auf einer Fahrradreise durch Marokko hat er Loubna kennengelernt. Iván bittet uns am nächsten Morgen, zum Mittagessen zu bleiben, doch wir wollen weiter, obwohl es regnet und der graue Himmel nicht wirkt, als wenn er sich demnächst öffnen wollte. Das Weinland endet, Holzwirtschaft beginnt. In einem Wald lockt uns ein Schild an den "Salto del Laja".

                             

Der Rio Cholguán rauscht über die Kante einer Felsplatte in einen Canyon, den das Wasser zwischen die flachen Hügel geschnitten hat. Wir stehen neben der donnernden Wasserwand. Die Sonne zieht einen Regenbogen aus dem sprühenden Dunst. Der Stein unter unseren Füßen vibriert unter dem Aufprall des Flusses, als wenn die Erde hohl wäre, die Trommel eines ekstatischen Musikers. Dann sind wir wieder unterwegs auf der Autobahn. Lkw-Fahrer hupen, strecken ihre Arme aus den Seitenfenstern, die Daumen in die Luft: "Vorwärts, immer feste druff." Obwohl keiner von ihnen eine Ahnung hat, wohin wir fahren oder woher wir kommen, nehmen wir die Anfeuerung so, wie sie gemeint ist, eine nette Geste von den ganz Großen an die ganz Kleinen.

                                       

Rinderweiden lösen den Wald ab. Die sanftäugigen Viecher drehen ihre Köpfe gemächlich. Kuhmütter die versehentlich zu nah an der Straße standen, bringen mit einem Galopp ihre Kälber in Sicherheit, bevor sie schauen, wer da so leichträdrig vorbeiflitzt. Die beruhigende Kette der Anden begleitet uns auf der linken Seite. Drehen wir den Kopf, sehen wir den Horizont an Schnee stoßen. Hier, weit im Süden, tun sich Lücken zwischen den Bergen auf und es wird leicht, die Namen auf der Karte den Gipfeln zuzuordnen. Vor uns kommt der Villarica in Sicht, ein fast perfekter Kegel, über dessen Spitze eine Rauchfahne weht, unser Berg.

        

Kurz nachdem wir die Autobahn verlassen haben, treffen wir einen Radler. Daisuke hat Japan vor drei Jahren für eine Weltumrundung verlassen und ist durch Asien, Europa, Afrika und Südamerika gefahren.

         

Auf einem Blechschild, festgeschraubt am Rahmen, hat er die Flaggen der 70 Länder gemalt, durch die er gekommen ist. Daisuke ist der erste von Dutzenden Radlern, denen wir im Süden Chiles begegnen. Die meisten sind nicht auf langer Strecke unterwegs und viele von ihnen haben keine Zeit, zu halten, manche grüßen nur widerwillig. Wir nähern uns dem weißen Villarica-Dreieck auf einer schmalen Teerstraße, haben 60 Kilometer lang Zeit, den Vulkan wachsen zu sehen.

         

Am Abend spiegelt sich sein Weiß im See, die Sonne rötet den Himmel, wir sind Teil einer kolorierten Postkarte, nur dass es Postkarten mit verzerrter Autoradiomusik nicht gibt. Ein paar Jugendliche sind zum Strand gekommen, sie sitzen auf dem Kies, teilen eine Bierflasche und eine Schachtel Zigaretten. Eines der Mädchen kreischt, springt auf, ein Junge setzt ihr hinterher, er packt sie. Sie fallen um, das Kreischen wird lauter und erstickt. Strandleben in einem Ort, der von Abwechslung weit entfernt ist, Villarica hin, Sonnenuntergang her.

                   

Vor einigen Jahren hat die staatliche Touristenverwaltung beschlossen, Ausländer nicht ohne Aufsicht zum Krater zu lassen. Vielleicht wollen die Beamten Besucher hindern, sich am Berg weh zu tun. Wahrscheinlicher ist, dass sie wirtschaftliche Aspekte im Sinn hatten. Uns kostet die Tour 60 Dollar. Mit diesem Geld kaufen wir die Aufmerksamkeit des Bergführers Angelo, Plastikschuhe, Rucksäcke, Gasmasken und die Begleitung von 24 Mitläufern. Wir dürfen wählen. Der Sessellift würde eine Stunde Weg abschneiden. Die meisten lassen sich vom Seil ziehen. Neun Wanderer gehen unter der Liftanlage über braunschwarze Vulkanasche zur Bergstation. Auch Monika läuft. Monika kann nicht gut laufen, aber sie bestimmt das Tempo. Wir gehen eine Viertelstunde, Führer Angelo voraus. Dann warten wir 20 Minuten, bis Monika nachgekommen ist. Wir rasten fünf Minuten, bis Monikas Puls langsamer geworden ist, dann gehen wir eine Viertelstunde. Angelo ist 150 Mal zur Spitze des Villarica gelaufen. Beim 151. Mal mag er nicht auf jemanden warten, der zwar bezahlt hat, aber besser unten geblieben wäre. Angelo muss geduldig sein, weil er der Bergführer ist und die Verantwortung trägt, vertragsgemäß und versicherungstechnisch. Angelo mag Monika nicht und nach der zweiten Zwangspause mögen auch wir Monika nicht mehr. Der Berg überzeugt uns, Monika zu vergessen. Das zehntausendmal zertrampelte, fleckenlose Weiß seiner Flanke steht neben uns. Zweihundert Schritte geradeaus, steile Kehre, in der die Schulter wechselt, mit der wir zum Berg zeigen, zweihundert Schritte geradeaus, Kehre. "Der Eispickel gehört in die Hand, die näher am Berg ist", kommandiert Angelo. Er sagt das vorsichtshalber. Es könnte sein, dass jemand stürzt, sich verletzt. Das würde Angelo nicht gefallen. In einer der Monika-Pausen deutet er mit der Hand auf das Land unter uns. Angelo nennt die Namen der Nachbarberge. Wir fühlen uns, als seien wir über sie hinausgeklettert, obwohl der Villarica ein Zwerg unter seinen Kollegen ist. Den Lanin sehen wir erst vom Rand des Kraters, doch der gehört zu Argentinien. Wir stehen in Chile und zu unseren Füßen hat die Erde ein Loch ohne Boden. Wer Glück hat, erwischt einen Tag, an dem die flüssige Lava bis unter den Kraterrand kocht und schaut in die blubbernde Glut des Hochofens, von dem uns auch in jedem anderen Teil der Erde nur eine sehr dünne Kruste trennt.

                   

Für uns spuckt der Villarica Schwefeldampf, der vom Wind gepackt und nach Argentinien getragen wird. Zwischen den Böen erwischen wir eine Nase voll von dem ätzenden Geruch. Husten, tränende Augen, mehr Schwefeldampf, bitte, bitte, wir wollen niemals im Erdboden versinken müssen. Die Sonne spielt mit den Mineralkrusten, die sich an der Innenseite des Berges abgesetzt haben. Gelb, rot, grün, blau, braun, sobald eine Wolke dazwischenkommt wird das Spundloch zum Magma grau. Der Schnee macht den Abstieg einfach. Wir setzen uns auf die wasserdichten Hosenböden und rutschen kilometerweit hinab, Der feuchte Schnee spritzt hinter die Sonnenbrillen, Schmelzwasser kriecht in die Socken. Soviel Spaß gönnen sich ernsthafte Berggeher normalerweise nicht, aber wir finden es lustig, durch den Schnee zu kugeln, ausgelassen wie Kindergartenkinder beim Rodelausflug. Das Land um die Berge gehörte den Mapuche-Indianern, die Berge gehörten den Göttern. Die Eindringlinge aus Europa haben ihnen den Besitz abgejagt, abgehandelt oder weggenommen. Über jeden Hektar lassen sich viele Geschichten erzählen. Die Geschichte der Mapuche endet trist. Die Indianer sind die ärmsten Chilenen, und das werden sie bleiben. Wir treffen die Nachfahren deutscher Einwanderer. Sie bewahren ihre Tradition in einer Umgebung, deren Wiesen, Hügel und Wälder bayerischen Landschaften zum Verwechseln ähnlich sehen. Am Wegrand weist ein Schild zum "Landkaffee Mainau", das Bier der Bauerei "Kunstmann" steht in den Supermärkten, und in den Fleischtheken liegt Salami aus der Wurstfabik "Mödinger". Valdivia ist eine Stadt, die sich den Einfluss der "Alemanes" zu Gute hält. Hier schickt man Kinder gern auf die deutsche Schule, weil auch spanischstämmige Chilenen finden, dass strenge Erziehungsregeln fit fürs Leben machen. Überraschende Bilder helfen, trotz aller Ähnlichkeit mit daheim nicht zu vergessen, dass wir am anderen Ende der Welt sind. Fette Seelöwen schwimmen aus dem Pazifik in die Mündung des Rio Calle Calle und finden am Fischmarkt Valdivias leichte Beute.

         

Der Regen macht die Stadt grauer, als sie sein müsste, der Asphalt glänzt, wir sind auf Patagonien eingestellt, als wir in Osorno ankommen. Eigentlich hatten wir uns mit unserem kanadischen Radlerfreund Rob verabredet, doch wir verpassen uns und fahren aus der Stadt hinaus, zum Lago Llanquihue.

         

In Puerto Octay scheint die Sonne, und als wir über dem Ort halten, schallt von unten Weihnachtsmusik herauf. Ein Lautsprecher am Platz hat Besinnlichkeit im Programm. Am Seeufer eröffnen Kinder mit klappernden Zähnen die Badesaison.

         

Wir sitzen im Faserpelz am Bootsanleger, schauen ins Abendrot und hören den Bandurrias zu, die den Tag verabschieden. Diese Vögel, größer als Enten, stochern mit säbeligen Schnepfenschnäbeln im Morast und schreien, als ob sie ungerecht behandelt würden. Ihre Stimmen wecken uns morgens um sechs und sie ruhen nicht, bevor es stockdunkel wird.

         

Das Kreischen begleitet uns nach Puerto Montt. Das Meer stößt an die Stadt, deren bunt angemalte Blechhäuschen gebaut sind, um den Wind auszuhalten, der hier heftig blasen kann.

                   

Wir hatten uns Puerto Montt als Station auf dem Weg zur Insel Chiloé gedacht. Wir wollten die Landschaft sehen, aus der die hölzernen Kirchtürme wie Zeigefinger ragen. Weiden, die ans Meer stoßen, Insulaner, die stolz auf das abgeschiedene Leben sind. Die Fähre zwischen Quellón und Chaitén wird vielleicht in der kommenden Woche ihren Betrieb aufnehmen, erzählt man uns im Büro der Schifffahrtslinie. So lange wollen wir nicht auf Chiloé warten müssen. Puerto Montt wird unser Ausgang nach Patagonien.