Regen bringt Segen
Dritter Tourbericht vom 27. Oktober 2001: Newport - Crescent City
In Newport jaulen die Fahrradketten nach Öl, und wir können das gut verstehen,
denn auch unsere Beine sind müde und von der alles durchdringenden Feuchtigkeit ein bisschen
aufgequollen. Wir schauen jeden Abend nach, ob schon Schwimmhäute zwischen den Zehen wuchern.
Auf dem Zeltplatz South Beach haben die Wolken hitzefrei. Benedikt und Bernd packen die Werkzeugtaschen
aus, schrauben, putzen, fetten und justieren die Pakkas. Das braucht, bei der noch vorhandenen
Gründlichkeit, einen halben Tag. Dann steigen wir auf, finden das Fahren auf unbeladenen
Rädern befremdlich, und wenden uns der Stadt zu. Weitere Pflichten: Wäsche waschen,
Lebensmittel einkaufen. Der Tag ist rum, bevor wir ein Zipfelchen der Rekreation zu fassen
gekriegt haben, und wir beschließen, einen weiteren freien Tag dranzuhängen. Im
Aquarium warten die Seeotter auf uns, zu denen Kerstin sofort Zuneigung fasst. Sie quiekt wie
eine amerikanische Mickeymaus, sobald eines der Tiere in der Nähe des Beckenrandes vorbeischwimmt.
Als um 15.30 Uhr zwei Wärterinnen faustgroße Muscheln an die drei Männchen
verteilen, und die Otter rückenschwimmend ihre Brust als Mittagstisch benutzen, ist Kerstin
selig. Hätten nicht eine Panzerglasscheibe und das vermutlich kalte, frische Meerwasser
sie abgehalten, wäre sie zu den Tieren gesprungen, um ein bisschen mit den Schnurrbarthaaren
zu schmusen.
Der Regenbogen hat sein Versprechen nicht einmal bis zum Ende unserer Freitage gehalten. Der
zweite Abend in Newport treibt uns die Gänsehaut über den Körper. Um wenigstens
in Ruhe und Wärme Abendessen zu können, fragen wir die Platzwärter, ob sie uns
eine der leerstehenden Jurten für zwei Stunden aufsperren können. Diese Jurten sind
fest stehende Zelte, ein amerikanisches Paradoxon. in ihnen darf man sich auf dem Campingplatz
wie daheim fühlen. Kein Tröpfchen Regen dringt durch das gummierte Segeltuch, Kondenswasser
ist innen unbekannt und zur Vollendung des Luxus sind elektrische Heizstrahler angebracht,
die unter Aufwand aller verfügbaren Energiereserven Zimmertemperatur erzeugen. Davor gibt's
natürlich eine Holzveranda und eine Feuerstelle. Wir hätten die Jurte nicht betreten
dürfen, denn dort entspinnt sich sofort die Diskussion, ob dieser Hausersatz nicht viel
besser vor dem Wetter schützen würde, als es unsere braven Zelte tun. Kerstin und
Elisabeth vertreten die Jurtenfraktion und wollen schon die Schlafsäcke bringen. Benedikt
und Bernd weisen darauf hin, dass es in den Zelten ebenfalls sehr trocken sei. Die Entscheidung
trifft ein kanadisches Dollarstück, das zu Ungunsten einer Jurtennacht fällt. Kurz
danach schläft Benedikt auf einer der Matratzen, er hatte sich niedergelegt, um für
die Tagebucheintragung Kraft zu sammeln.
Als wir die Zelte zusammenpacken, beginnt es zu nieseln. Der zarte Morgenregen verebbt und
entwickelt sich zu einer Landplage. Deftige Windböen verwandeln die Tropfen in Schrotkugeln,
die sich daran machen, Haut und Kleidung zu löchern. Wir trullern die Minihügel im
Schritttempo hinauf und müssen bergab strampeln, um vorwärts zu kommen. Am heftigsten
trifft uns der Sturm, auf der Brücke über die Alsea Bay nach Waldport hinein. Wir
lehnen uns mit den Schultern gegen die harte Wand aus Luft und Wasser. Sie ist jedoch nicht
verlässlich und wir schwanken wie betrunkene Rad-Anfänger, denen man die Stützräder
geklaut hat. Der Seitenstreifen ist jedoch, anders als auf den meisten anderen Brücken,
breit genug für die Zappelei.
Die Tachos zeigen eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 14 Stundenkilometern, und wir sind
stolz darauf. An diesem Tag schaffen wir 40 Kilometer.
Gegen diese Widrigkeiten hilft nur Philosophie. Sie geht ungefähr so: Was ist das, Zivilisation?
Zivilisation ist der Ausgang des Menschen aus seiner angeborenen Wetterabhängigkeit. Wetterabhängigkeit
heißt, Frieren, wenn Regen und Wind dich beuteln. Schwitzen, wenn die Sonne dich brät.
Und es heißt insbesondere, an beiden Zuständen nichts ändern können. Wer
jetzt kein Haus hat, dem hilft ein feuchtes Zelt nichts mehr. Wer jetzt gefroren ist, der wird
es immer bleiben. Wird radeln, radeln, aus der Nase weinen und in den Nächten unruhig
wälzen sich klamm und müd.
Zuhausgebliebene können sich im Ohrensessel zurücklehnen und sagen: "Wir haben
es immer gewusst. Warum fahrt ihr auch los. Kommt jetzt nicht mit Beschwerden." Dies ist
keine Beschwerde, sondern eine Beschreibung, antworten wir. Das ist ein kleiner aber feiner
Unterschied. Alle, die ihre Ölheizung und die doppelte Daunendecke genießen, erfahren
nämlich nicht, was wir sehen. Dieses so verregnete Stückchen Küste des Bundesstaates
Oregon ist ein wunderschönes Fleckchen Erde, das auch durch Sauwetter nichts einbüßt.
Wir spüren die Kraft der Brandung, die sich durch den Regen auf uns überträgt,
fahren an Sandstränden vorbei und an skurril verwaschenen Felsen. Für uns ist ein
Hügel nicht nur eine geografische Landmarke, sondern im Anstieg Mühe, Muskelschmerz
und Lungenpfeifen, die Abfahrt fährt uns als windige Finger durch die T-Shirts. Vorsicht
gehört dazu, wenn man trotz 60 Stundenkilometer und Trucks auf Konfrontationskurs heil
unten ankommen will. Jeder Meter unseres Weges ist selbstgemacht, und keiner ist wie der andere.
Wir radeln dicht über dem Boden, die Blicke kriechen im Straßengraben. Wir sehen
Käfer, Raupen, Schnecken, Schlangen, Bierdosen, Zigarettenstummel, Blätter, Zweige
und Halme. Was für alle, die das Gaspedal treten, lediglich eine Begrenzung ihrer Fahrbahn
ist, erzählt uns von dem Land, durch das wir reisen. An einer Stelle sehen wir Robben,
die sich offensichtlich in ihrer gischtigen Badewanne sauwohl fühlen. Wir würden
im Ernst nicht einmal mit den amerikanischen Urlaubern tauschen wollen, die in ihren Campingmobilen
an uns vorbeibrummen und für Radler, Tiere und Landschaft nur satte Blicke durch getönte
Frontscheiben übrig haben. Arme, bewegungslose, antriebsschwache Motorfetischisten.
Nach einem Stopp in einer gesegneten Jazzkneipe, in der eine freundliche Bedienung uns zuerst
Handtücher und dann eine heiße Suppe reicht, lassen wir uns nochmals einige Kilometer
lang beregnen und biegen in einen steilen Weg ein, der uns zum Cape Perpetua Campground bringt.
Der verschlafene Platzwart, wohl auch Besitzer, begrüßt uns als die ersten Gäste
des Tages. Warme Duschen hat er nicht zu bieten, dafür ein Dach auf Stelzen, unter das
wir unsere Zelte auf Betonboden stellen dürfen. "Normalerweise ist dies der Gruppenplatz,
er kostet 50 Dollar. Heute ist kein anderer Gast da, ich gebe ihn euch für 14 Dollar.
Ist doch ein gutes Geschäft, oder?"
Leichtfertig lassen wir beim Aufbruch am Morgen die Regensachen in den Packtaschen stecken.
Das rächt sich, als uns nach etwa fünf Kilometern ein Guss überrascht, der uns
durchnässt, schneller als wir die Häute überziehen können. Ganz verschwinden
unsere Freunde, die Wolken nicht, deshalb lassen wir die Sachen am Körper. Jeder Umdrehung
der Radkurbeln geht eine kleine Überwindung im Kopf voraus. Vielleicht entsteht daraus
die Unachtsamkeit, die Elisabeth zu Fall bringt. Sie stößt auf einem Stück
Steigung mit einer Hintertasche gegen die Leitplanke und liegt auf der Nase. Außer einigen
Schrammen am Ellenbogen ist sie unversehrt. Allerdings ist der vordere Gepäckträger
verbogen. Er wird noch einige Zeit halten, zumindest so lange, bis uns der wahre Weg eingefallen
ist, ihn zu reparieren.
Wir haben die Sanddünen Oregons erreicht. Sie sind ein Stolz dieses Staates. Die Berge
erstrecken sich meilenweit ins Land. Auf dem rieselnden Untergrund wächst nichts. Dünen
sind fragile Gebilde, denen jeder menschliche Schritt schadet. Was machen die Amerikaner damit?
Sie fahren drauf. Mit vierrädrigen Sandmobilen, unter denen bei Vollgas der Staub hervorschießt.
Auch das ist eine Form von Rekreation.
In Reedsport nehmen wir uns ein Motelzimmer. Wir können den Besitzer ein wenig runterhandeln,
sein Nachbar hatte deutlich weniger verlangt.
Für den folgenden Tag haben wir eine besonders kurze Etappe geplant, um endlich einmal
die elektronische Post per Internet zu erledigen. Die öffentliche Bücherei in North
Bend genehmigt uns zwei Stunden an zwei Monitoren, obwohl sonst lediglich eine Stunde pro Person
möglich ist. Das reicht gerade, um ein paar Mails zu öffnen, und den ersten Reisebericht
nach München zu schicken.
Wir erleben den tausendsten Kilometer im südlichen Teil der Dünenlandschaft Oregons,
ein paar Meilen hinter Winchester Bay, und gönnen uns zum ersten Mal aus voller Fahrt
einen Abstecher ins Blaue. Ein Straßenschild, das nach rechts weist, verspricht innerhalb
der nächsten vierhundert Meter einen Ausblick auf die Sandberge. Wir halten bei einem
Cart-Verleiher, und weil der in seinem Kühlschrank kein Bier hortet, feiern wir mit Orangensaft.
Kurz nach North Bend, unserer Internet-Stadt, finden wir einen Campingplatz mit warmen Duschen,
und am kommenden Morgen erreichen wir über eine sehr hügelige, sehr stille Straße,
Bandon. Dort haben sie ein Ansichtskartenmotiv gebaut. Zweistöckige Holzhäuser mit
Fassaden, die wir aus Westernfilmen kennen, Firmenschilder handgemalt, Souvenirgeschäfte,
ein Leuchtturm und in einer Fritierstube am Kai die besten Fish and Chips der Stadt, wie uns
ein älterer Mann erklärt. Wir genießen den Sonnenschein, die heißen Lachsbrocken
und unsere Pause.
Der Highway schneidet das Land jetzt in einiger Entfernung zur Küste und führt durch
das Gebiet der Beerenfarmer. Wir sehen die Cranberry-Felder, die von den Bauern zur Ernte unter
Wasser gesetzt werden. Die Beeren schwimmen, und die Arbeiter halten einen halbmeterdicken
Pumpenschlauch in die flachen Teichfelder und saugen die Früchte auf Lastwagen.
Manche Farmer haben Geschäfte an die Straße gestellt, in denen sie hausgemachte
Marmelade verkaufen. Wir schauen uns das alles an und erreichen kurz vor den Humbug Mountains
wieder die Steilküste. Die Straße führt in ein feuchtes, nebliges Seitental,
und dort liegt der Campingplatz für diese Nacht. Der Parkhost, ein freiwilliger Wächter
namens Pat Hauck, verspricht, auf dem zugewiesenen Platz werde uns Frühstückssonne
wecken. Natürlich erreicht kein Strahl das Rasenstück, und wir rollen die feuchten
Lumpen zusammen und umrunden die Berge. Die Sonne bricht durch den Wolkenschirm und wir legen
in Nesika Beach Rast ein. Ein Gartenhandwerker sagt, wir könnten gern auf seinem Land
campen, doch wir lehnen ab weil wir Oregon und seinen Regen hinter uns lassen wollen, die Grenze
ist verführerisch nah. Die letzte Nacht im Regenstaat verbringen wir im Harris State Park
vor Brookings. Die Nachbarn unserer Campingparzelle sind wahre Kürbisschneider. Sie haben
eine Familie der Halloweenfrüchte unter das Messer genommen, Märchenfiguren, Zauberer
und einen Che Guevara in die Schalen geschnitzt. Kerzen im Inneren machen aus den Kürbissen
beleuchtete Scherenschnitte, und die sanft flackernden Flammen beleben die nächtlichen
Lichtwerke.
"It never rains in California
" - Lieder müssen nicht immer wahr, sondern
eher schön sein, um ein Evergreen zu werden. Doch dass ein Lied so verlogen sein kann,
wie dieses, ist eine neue Erfahrung. Wir fahren in eine Nebelwand, an der ein Schild "Welcome
to California" angebracht ist. An der Staatsgrenze steht ein Kontrollhaus der Agrarbehörde,
und "Godfather" empfiehlt, alle Früchte aufzuessen oder wegzuwerfen, weil sie
nicht ins Land gelassen würden. Die Kalifornier wollen so ihre Ernten vor Krankheiten
bewahren. Wie das funktionieren soll und welchen Sinn es haben könnte, ist rätselhaft,
und Benedikt versteckt Kartoffeln und Pampelmusen unter seiner Dreckwäsche. Einen Apfel
lässt er im Rucksack, als Erfolgserlebnis für die Aufpasser. Doch der Mann in Agrar-Uniform
winkt uns mit lässigem Wedeln durch. Die Kontaminatoren sind im verregneten Sonnenstaat
angekommen. Zügig rollen wir nach Crescent City und flüchten vor der Nässe in
ein Motel. In diesem Wetter, sagen wir, wollen wir den Berg nicht erradeln, der hinter der
Stadt angekündigt ist.