Die Geschichte vom Sauerkraut

                     

 
Vierter Tourbericht vom 2. November 2001: Crescent City - Mendocino

Dieses Kalifornien Sonnenstaat zu nennen, klingt in unseren Ohren, als ob alle, die das sagen, niemals im November von Norden hineingefahren wären. Vielleicht haben wir auch die Wolken aus Oregon hinter uns her gezogen, jedenfalls beginnen wir den Kalifornienaufenthalt mit einer dreinächtigen Motelphase. Das erste steht in Crescent City, wo uns ein kräftiger Guss zuerst in die Touristeninformation und dann ins Büro einer Motelmanagerin treibt, die uns 45 Dollar abknöpft. Das ist es nicht, was wir uns unter freiem, wildem, unzivilisierten Camperleben vorstellen, aber auch eine Kleinstadtstraße bietet aufmerksamen Beobachtern Spannung. Kerstin und Bernd stehen bei einer Zigarette vor der Tür, als es jenseits des gegenüberliegenden Blocks kracht. Ein hölzerner Strommast, den wir wegen der zweigeschossigen Gebäude gut sehen, neigt sich zur Seite, eines der Kabel reißt und sendet Blitze durch den Abendhimmel. Später hören wir Sirenen. Jemand hat versucht, die schräg gespannten Halteseile eines Strommasten an einer Kreuzung hinaufzufahren. Das Auto hängt in der Luft, als wäre es von einem Kran an einem Rad in die Höhe gezogen worden. Später wird für eine halbe Stunde auch in unserem Zimmer der Strom abgedreht, dann ist der Zwischenfall von dem Massenaufgebot an Polizei, Feuerwehr und einem Trupp Hochspannungselektriker bereinigt.
Die Straße führt südlich aus Crescent City heraus und ohne Umwege in einen Redwood-Wald. Es geht aufwärts. Nicht mit unserer Stimmung, die sich wegen der Regenkleidung nicht unbeschwert entfalten kann, sondern mit den Höhenmetern. Unbewegt steuern freundliche Menschen ihre Campingmobile an uns vorbei, jedes sendet von glänzenden Rädern einen Sprühnebel, damit wir nicht nur von oben, sondern auch von der linken Seite saftig werden. Der Hügel zieht sich. Im "Godfather" ist seine Höhe mit 1.000 Fuß angegeben. Für eine Bergtour scheint das nicht viel zu sein, und wir sagen uns, die Anden reichen weiter hinauf, aber schnaufen müssen wir doch, und zum Schwitzen ist es auch nicht zu kalt. Die Abfahrt endet an einem Sandstrand und wir sehen verwundert, wie sich neoprenverhüllte Surfer ins graue, windzerwühlte Pazifikwasser werfen. Uns friert.
In Klamath halten wir an einem Laden, der einer aufgelassenen Tankstelle ähnelt, und eine Dame erklärt uns, die Saison sei vorbei. Das hindert sie nicht, uns eine Handvoll geräucherten Lachs zu verkaufen, für den sie 25 Dollar sehen will. Gewiss, das Jerky, so heißt der ursprünglich zarte und hier zu wohlschmeckendem Leder veredelte Fisch, ist eine indianische Spezialität, aber sie erfanden die Speise, bevor der Dollar ins Land kam. Wir wissen nun, warum.

                    
Ein weiterer Berg, 480 Fuß höher als der erste, trennt uns nicht lange vom Tagesziel Orick. Das ist bisher unser unstreitiger Liebling unter den hässlichen Städtchen an der Westküste. Hinter Autowracks und Müllhügeln verbergen sich windschiefe Hütten, in dem Lebensmittelgeschäft glimmen einige Neonröhren und imitieren das Ambiente der DDR-eigenen Kaufhallen. In den Regalen liegen vergessene Kekspackungen, nur die Schnapsecke und der Bierkühlschrank erzeugen Nachfrage. Wer hier wohnt muss entweder nervenlos sein oder saufen. Humor erkennen wir beim Besitzer des zweiten kalifornischen Motels, das uns aufnehmen muss. Er hat es "Palm Motel" genannt. Das ist erst zu begreifen, wenn man in den Innenhof geht und dort eine Palme eingepflanzt sieht, die ein seelenloser Mensch aus dem Sonnenlicht des Südens entfernt hat, um sie hier langsam umzubringen. Neben dem Baum ist ein überdachter Pool installiert, das Wasser ist eiskalt. Gründlichkeit darf man den Eigentümern nicht absprechen, denn eine Warntafel sagt: Hier gibt's keinen Bademeister. Wozu auch.

                    
Mit Orick versöhnen uns nicht einmal die Hirsche, die wir in Rudeln nahe der Straße äsen sehen. Sie tragen ihr Geweih stolz, als ob sie wüssten, dass die Gegend, die "Elk Prairie" nach ihnen benannt ist.
Früh sind wir am kommenden Morgen auf den Rädern, denn wir haben uns vorgenommen, die Pack- und Toilettenzeiten zu verkürzen. Der Highway nimmt uns im Nebel auf und wir biegen nach einigen Meilen auf eine Seitenstraße. Kleine Buckel, die uns zwar aus der Sicht von Landschaftsgenießern freuen, unsere Beine jedoch zu Schmerzsignalen animieren, führen uns zu einem Aussichtspunkt, an dem uns heiseres Bellen begrüßt. Einige hundert Meter vor der Steilküste ragt ein Felsen aus dem Wasser, auf dem sich Seelöwen oder Robben tummeln. Wir können es wegen der Entfernung nicht genau unterscheiden, hören aber ein besonders lautes Männchen brüllen, als wenn es eine Armee von Nebenbuhlern einzuschüchtern gelte.

                     
Kurz vor Arcata öffnet sich der Wolkenvorhang träge und eine längst versunken geglaubte Sonne zeigt diese Stadt der Hippies in glänzendem Licht. Vor allem der Downtown-Bezirk bezirzt uns mit fein herausgeputzten Häuschen, in denen nette Geschäfte oder Cafés und Restaurants untergebracht sind. Die Stadt lebt, und zum ersten Mal sehen wir, dass Fahrräder in einer amerikanischen Stadt durchaus straßenbeherrschend wirken. Kerstin hat aus einem ihrer Führer herausgelesen, dass hier der Sänger von "Greatful Death" wohnt. Seine Existenz hat zur Gründung einer Kolonie von Permanentgroupies beiderlei Geschlechts geführt, die sich in der Abwesenheit ihres Schwarms notgedrungen miteinander fortpflanzen. Sobald der Musiker im Lande ist, lagern sie vor seiner Wohnung, wer weiß, in welcher Hoffnung. Vielleicht hat dies das Straßenbild Arcatas geprägt. Wir sehen auffallend viele Menschen, die Gitarren und Dreadlocks herumschleppen, Mädchen laufen mit den Rasta-Wollmützen herum, aus ihren Tragetüchern schauen Babyköpfe. Das alles macht uns diese Stadt sympathisch, und wir sind noch milder gestimmt, als Elisabeth vom Einkaufen mit knusprigem Brot und Ziegenkäse zurückkehrt. Selig sitzen wir im Sonnenschein auf einer Bank mitten im Stadtplatz, rauchen ein paar Zigaretten, trinken Bier, würdigen unsere Räder keines Blickes, mampfen, entspannen. Das Schild, auf dem Radfahren, Rauchen, Alkohol trinken und Campen strikt untersagt ist, beachten wir nicht.
Die Pause ist vorbei, die Sonne zieht sich hinter Wolken zurück, wir sind wieder auf dem Highway. Eureka, die Nachbarstadt soll auch ein freundliches Gesicht haben, interessiert uns nicht. Weiter Richtung Süden, wir müssen raus aus dem Schmuddelwetter. Die Nacht hat es ebenfalls eilig und zwingt uns in Fortuna zum dritten Motelstopp. Zuvor hätte ein Autofahrer echte kärntnerische Flüche hören können, wenn er die Scheibe heruntergedreht hätte. Sein Hupen macht Benedikt vollends wütend, dem ein fehlender Seitenstreifen im Regen bei Nacht zusammen mit Autos auf Schmusekurs noch nie gepasst haben.
Morgens sieht die Welt zwar immer noch verregnet, aber schon viel heller aus. Hinter Scotia zweigt die "Avenue of the Giants" vom Highway ab und begleitet ihn als Parallelstraße über fast vierzig Meilen. Wir hatten sie bereits hinter Crescent City genossen, die unerschütterlichen Redwoods. Die Borke ihrer Rinde zieht sich sanft um den Stamm gedreht hinauf bis in den Bereich, in dem die Äste ansetzen. Die ältesten der Riesen stehen seit über 1.000 Jahren. Wer die Großvaterbäume umarmen möchte, muss drei Freunde mitbringen. Redwoods breiten ihre Nadeln ungerührt aus über die Besucher, die meist viel zu schnell unterwegs sind, um sich etwas erzählen zu lassen. Sie rauschen nicht, das haben Redwoods nicht nötig. Wenn sie es täten, würde der Ton aus der Krone bis zum Ohr der Menschen verloren gehen. Die Redwoods sprechen durch Ruhe, durch die Dämmerung, die sich unter ihnen ausbreitet. Manchmal sind aus einem Samen zwei Stämme entstanden, sie stehen dann beieinander, wie siamesische Zwillinge, die am Fuß zusammengewachsen sind. Haben Bäume eine Seele? Die der Redwoods muss groß sein und sehr geduldig.
In Pepperwood, dem ersten Örtchen an der "Avenue of the Giants" möchten wir einen Kaffee trinken, doch es handelt sich wieder mal um eine Müllsammlung mit Namen. Wir beschließen, bis Weott weiter zu fahren und ausgiebiger zu pausieren. Ein Schild weist uns dort auf "Mama Su's Place" hin, an dem Hot Dogs versprochen sind.
Als wir sehen, dass es ein kleiner Supermarkt ist, wollen wir abdrehen und fragen einen weißbärtigen Mann mit breiten Schultern und rundem Bauch, wo das nächste Café zu finden sei. Er antwortet, und als er sieht, dass unsere Minen sich zerknautschen, sagt er, die hier angebotenen Hot Dogs seien Weltspitze, weil von ihm selbst bereitet, und eine nette Sitzgelegenheit könne er uns ebenfalls bieten. Im Laden, den er und seine Frau Susi gekauft haben, ist ein Teil für eine Polstergarnitur freigeräumt. Vom CD-Spieler klingt Andrea Bocellis Tenor.
William Hall, ehemaliger Helikopterverkäufer aus Los Angeles, ist ein selbstbewusster Mann. Mit Genuss zieht er in unregelmäßigen Abständen seinen Rotz hoch, auch wenn es sich anhört als habe er gar keinen in der Nase. Das wirkt bei ihm nicht widerlich, sondern als Betonung seiner Erzählung und als Zeichen vollkommener Zufriedenheit. Seine Frau, sagt er, stamme aus Peru und sei fünf Jahre seine Bürochefin gewesen. So lange habe es gedauert, bis sie ihn zum Heiraten überredet hatte. Er dreht das Gas für die Würstchen an und stellt mit Bedacht eine Pfanne auf die Flamme. Ob wir wüssten, beginnt er wieder, wie die Geschichte des Sauerkrautes sich entwickelt habe. Wir schütteln mit wässrigem Mund die Köpfe. Sauerkraut, sagt Mr. Hall, stamme ursprünglich vom Mars und sei dort als "Saardong" (Kerstin schreibt es "Zardong!") bekannt. Es werde mit Zwiebeln und Paprika in der Pfanne gebraten. Der Abstieg dieser Speise habe begonnen, als sie die Erde erreichte, die Menschen begannen, sie zu kochen und ihr den Namen "Sauerkraut" gaben. Das marsianische Rezept, das unser Koch selbstverständlich anwendet, erreicht sein Ziel. Nachdem wir die köstlichen Würste samt Brot und jedem einzelnen Fitzelchen Saardong aufgegessen haben, bestellen wir eine zweite Runde.
William Hall hat vielleicht Wissensquellen, von denen wir abgeschnitten sind. Eines Tages, so erzählt er weiter, habe ein Berggeist ihm die Erlaubnis erteilt, zum achtzigsten Geburtstag mit dem Hubschrauber auf dem Mount Everest zu landen. Bis dahin seien es noch zehn Jahre, in denen er sich in Ruhe überlegen werde, welchen der drei in Los Angeles eingelagerten Helikopter er benutzen wolle.
Zwischendurch kommt Gattin Susi hinter der Kasse hervor, umarmt ihren William von hinten und streichelt ihn mit verliebten Blicken. Zum Abschied hält sie jedem von uns eine basketballgroße Glaskugel hin, in der Papierkraniche liegen. Origami, die japanische Papierfaltkunst ist ihr Hobby, und der Vogel ist ein Schutzsymbol für Reisende. Ein Zufall: Kerstin und Bernd haben bereits einen dieser Vögel in ihrem Tagebuch liegen, den ein Freund als Talisman mitgegeben hatte.
Hinter Phillipsville endet die Gigantenavenue und wir müssen auf den 101 zurück. Die Dunkelheit hat uns wieder erwischt, als wir auf einen Campground beim Richardson Grove rollen, wo die Platzwartin Misty Crane uns ein Holzhäuschen frei gehalten hat. Hier verbringen wir einen weiteren Rekreationstag, der vor allem der Fahrradpflege zugute kommt und erfahren bei der Abfahrt, dass wir zum ersten Mal vom amerikanischen Geschäftssinn profitieren. "Sleep one night, get one free."

                     
Hinter dem ersten Hügel zeigt sich Morgensonne. Wir sind ziemlich froh, weil an diesem Tag der Leggett-Hill zu bewältigen ist, die höchste Erhebung an der US-Pazifikküste. Unerwarteterweise geht der Dreimeilenanstieg fast von allein und die Abfahrt ist nur von Bremsmanövern für enge Kurven unterbrochen. Ekliger ist der Berg, der folgt, weil er viel steiler, wenn auch nicht so hoch ansteigt. Dann sehen wir wieder den Pazifik und die Sonne darin verschwinden. Übernachtet wird auf dem Campground in Westport.
Wir haben das Lied "Mendocino" schon so oft gesungen, dass wir uns selbst damit kaum noch hören mögen, erwarten uns jedoch von dem Städtchen große Eindrücke. Vor allem Elisabeth füttert unserer Phantasie, weil sie von einem wunderschönen Strand berichtet, an dem sie vor einigen Jahren Halt gemacht hat. Auch wenn Mendocino keine wirklich sportliche Tagesleistung entfernt liegt, soll es unser Ziel sein.
Zunächst müssen wir durch Fort Bragg. Vor der Einfahrt bleibt plötzlich Benedikt zurück. Wir warten hinter einer Kurve, bis ein nachkommender Radler erzählt, einer mit vielen Packtaschen sei weiter hinten damit beschäftigt, sein Rad auseinander zu schrauben. Der erste Platten, natürlich am Hinterrad, damit es richtig Spaß macht und die Finger garantiert dreckig werden.
Während der Zwangspause kommt ein Radler von Norden auf uns zu. Es ist Henry, den wir schon vor Tagen in Port Orford am Straßenrand stehen sahen. Er hat wenig Gepäck auf einem sportlichen Gepäckträger, es ist jedoch in Ortlieb-Taschen verpackt, was wir bei Amerikanern bis dahin noch nicht gesehen haben. "Diese wasserdichten Säcke kriegst du nur in guten Radgeschäften", sagt Henry. Er ist in Montana losgefahren, und in der kalifornischen Stadt Ukiah zu Hause. An seiner Lenkertasche baumelt ein Schild "One Planet indivisible". Gegen den schwachsinnigen Patriotismus meiner Landsleute, sagt Henry.
In den zwei Tagen zuvor ist er mit zwei Kanadiern unterwegs gewesen, erzählt er, doch die seien ein paar Meilen zurück. Wir wundern uns deshalb nicht, als nach einigen Minuten Etienne und Simon anrollen. Wir unterhalten uns im Stehen, bis Benedikt aufgepumpt hat.
Mendocino im Abendlicht ist eine putzige Ansicht. Die traditionellen amerikanischen Holzhäuser, bunt gestrichen, saubere Straßen, alles ordentlich und rein. Mendocino könnte eine deutsche Erfindung sein, von amerikanischen Siedlern in Szene gesetzt. Wir rollen hindurch und dann über den Big River, an dessen Ufer zwei Brüder eine Baracke für ihren Fahrradladen errichtet haben. Sie verfügen über eine erhebliche Auswahl an Ersatzteilen und wir decken uns mit neuen Schläuchen und ein paar anderen Kleinigkeiten ein,. Zum Campingplatz führt ein fies steiler Waldweg auf einen Hügel. Er überrascht uns hinter einer Kurve und wir müssen die letzten Meter schieben. Nachdem die Zelte stehen, wandern wir anderthalb Meilen in die Stadt zurück und kaufen ein paar Salate und Tacos. Das Brot finden wir in einem Ökoladen, der in einer ehemaligen Kirche eingerichtet ist. "Corners of the Mouth" ist eine Kooperative, in der die Mitglieder gleichberechtigt sind. Der Verkäufer hinter der Kasse erzählt uns, die Kirche sei von einer Tochter der hier herrschenden Kelly-Familie gebaut worden, weil sie mit der Dorfkirche nicht zufrieden war. "Kann man schon tun, wenn einem die ganze Stadt gehört", fügt er hinzu.
Wir nehmen die Einkaufstüten unter den Arm und suchen uns außerhalb der Reichweite der Straßenlaternen einen windgeschützten Platz an der Steilküste. Dort hängen wir unsere Taschenlampen in die Zweige eines Baumes und genießen die Ruhe.