Sterntaler am Pazifik
Sechster Tourbericht vom 17. November 2001 San Francisco - Big Sur
San Francisco scheint uns nicht fortfahren lassen zu wollen. Nach einigen Tagen mit - aus Radleraugen
beurteilt - angenehmem Wetter, pladdern pralle Regentropfen auf das Pflaster der Market Street,
über die wir dem Ausgang der Stadt zustreben. Das Wetter vertreibt alle Penner aus ihren
Open-Air-Quartieren in irgendwelche bedachten Winkel.
Benedikt hat beschlossen, sich von der zweiten Ausgabe seiner Gummistiefel zu trennen. Sie
verbreiten mittlerweile einen Geruch nach aufgeweichtem Uraltkäse, den vor allem Elisabeth
nur widerstrebend erträgt. Die Rubberboots sollen künftig die ungeschützten
Beine eines sanfranziskanischen Obdachlosen zieren, hat Benedikt sich vorgenommen, doch er
bleibt auf seiner milden Geste sitzen und stellt die Stiefel an einer für Fußgänger
schwer zugänglichen Brücke zwischen die Stelzen einer Stadtautobahn.
Bei Montara erleben wir den 2.000sten Tourkilometer. Feierlich betreten wir ein Lebensmittelgeschäft
und packen Sandwiches, Bier und Süßigkeiten ein. Wir finden eine Bank am Rand der
Steilküste und sehen kauend braunen Pelikanen zu. Die Vögel schweben, wie an einer
Schnur gezogen, knapp über den Wellenkämmen. Sie korrigieren ihre Höhe ohne
Flügelschlag, die Federn werden nicht nass, sie halten ihre faltigen Schnäbel starr
vorwärts gerichtet, gewaltige Fischjäger und Luftkönige. Schiere Eleganz gegen
die Möwen, die mehr durch die Luft purzeln als fliegen, und die sich mit ihrer bösartigen
Gefräßigkeit um unsere Freundschaft bringen.
Die acht Meilen bis zum Campground an der Half Moon Bay vergehen in einem Hops, und wir stellen
die Zelte auf den schwammigen Boden, den die Ranger dort für einen Dollar pro Person an
Wanderer und Radler vergeben. Das ist vermutlich nicht die Schuld der Uniformierten. Einer
von ihnen ist so nett, das Duschhäuschen in unserer Nähe aufzusperren.
Wir beschließen am folgenden Tag, uns in die Hände des Radführers zu geben,
der eine Etappe vorgesehen hat, die mit 56 Meilen beziffert ist. Es werden mehr als 100 Kilometer,
und diese Diskrepanz (eine Meile enthält gewöhnlich etwa 1,6 Kilometer), verwundert
Kerstin und Benedikt, die beiden Tachoträger, ebenso wie Elisabeth und Bernd, die ohne
digitale Messgerätschaft unterwegs sind.
Wir fahren an der Jugendherberge Pidgeon Point vorbei, und dann wieder an der Steilküste,
auf deren Felsen Pelikane rasten. Santa Cruz erreichen wir zügig, und biegen vom Highway
ab, der sich hier in eine Autobahn ohne Fahrradbeteiligung verwandelt.
An einem Strandparkplatz sehen wir einen Kleinbus, der als Fahrzeug kaum zu erkennen ist. An
der Karosserie kleben tausende Plastikfiguren, auf dem Ersatzreifenkasten hat sich die andächtige
Krippengruppe rings ums Jesuskind versammelt, über dem Dach droht eine Rakete und die
Fenster sind von innen mit Fransen und Gardinchen verhängt. Ein bärtiger Geselle
hat sechs Jahre verbracht, mit Heißkleber sein Auto in eine fahrende Hippiebotschaft
zu verwandeln. Wo er hält, stellt er eine Vase auf, in die staunende Besichtigungsgäste
Dollars versenken. Mit dem Herzeigen ist der Herrscher dieser Privatattraktion nicht knausrig.
Wer will, darf auch die Schlafkammer betrachten, in der sich ein weniger von einer Mission
durchdrungener Mensch nicht drehen könnte. Der Mann trägt eine Franziskanerkutte,
um den Leib eine Kordel, an den Füßen nur die Zehennägel. Er nennt sich "Brother",
alles andere wäre nicht stilecht.
Santa Cruz gehört dem Sommer. Unterhalb von Downtown zieht sich ein Strand, der in der
Saison von Bratleibern bedeckt sein dürfte. Wir sehen hunderte Surfer im Wasser paddeln
und nach der richtigen Welle suchen, sie stecken in Neopren und haben vermutlich kalte Füsse.
Hier beginnt das Kalifornien der Beach-Boys und -Girls.
Den New Brighton State Beach sehen wir bei Dunkelheit. Daran ist die Länge der Etappe
schuld und der Supermarkt namens "Safeway".
"Safeway" ist nicht nur eine Ladenkette, es ist auch eine Lebenshaltung, zumindest
die unsre. Das gilt, seit wir eine "Safeway-Club-Karte" besitzen. Erst mit dieser
Karte wird der Laden seinem Namen gerecht, denn Mitglieder können "safen", das
heißt, Geld sparen. Zumindest dürfen sie das glauben, denn es steht auf jedem Kassenbon.
Das System funktioniert so: In einem dieser Läden fasst man sich das Herz und fragt eine
Kassiererin oder einen Kassierer, ob man Mitglied werden könne. Erfreut reicht der freundliche
Mensch eine Broschüre und einen Stift rüber, man schreibt Namen und Adresse auf,
am besten auch die Telefonnummer. (Wir hätten einen Münchner Anschluss angeben können,
darauf hat die Kassiererin verzichtet.) Danach muss der Barcode der Karte über den Kassenscanner
gezogen werden, und schon ist man drin. Tatsache ist: Hat man die Karte parat, erhält
man einige Waren billiger.
Doch es sind oft nicht die, die wir brauchen. In den Regalen sind die Club-Produkte mit gelben
Preisschildern markiert. Wir sind erfreut, dass zwei Dosen Katzenfutter zum Preis von anderthalb
Dosen Katzenfutter angeboten werden. Doch manchmal schlagen wir richtig zu, und erstehen beispielsweise
ein Kilo Kaffee, das irgendwann mal 10 Dollar kostete, für 4,99 Dollar. Wir wetteifern,
wer bei einem Einkauf besser gesafet hat und laufen uns die Augen wund nach gelben Preisschildern.
Natürlich wissen wir, dass es all diese Sonderangebote woanders vielleicht noch billiger
gäbe, doch wir sind unterwegs und können nicht in jeder Stadt innerhalb von Stunden
zu Einkaufskönigen reifen. Kaufen würden wir ohnehin beim "Safeway", und
mit Karte ist es billiger als ohne.
Morgens machen wir uns auf den Weg nach Monterey. Die Straße führt durch Farmland.
Die Bauern bauen in diesem Landstrich besonders gern Rosenkohl und Artischocken an. Die Ernte
haben sie gänzlich in die Hände von Mexikanern gelegt. Die billigen Erntearbeiter
stellen ihre Autos an die Ränder der Felder, wo sie mit Klowagen und Feldküche in
einer Reihe stehen. Durch die Pflanzenspaliere rollen unablässig Zugmaschinen, an denen
Fließbänder hängen. Dort putzen die Mexikaner die Früchte. Lkw ziehen
die Ernte einkartoniert und auf Paletten gestapelt an uns vorbei zu den Verladestationen. Hier
ist alles "Dole", und die Anwesenheit des Weltkonzerns hat die Landschaft eingeebnet.
Niemand sonst braucht Quadratmeilen Gemüseeinerlei.
Später führt der erste echte Fahrradweg parallel zum Highway 1 nach Monterey. Ein
Rennradler bietet sich uns als Führer an. Er begleitet uns zum Supermarkt und setzt uns
auf die Straße zum Campingplatz. Das Reiseführerbuch hatte ebenfalls versprochen,
dass der Zeltplatz innerhalb der Stadtgrenzen liegt. Wir sind erstaunt, dass der mit Häusern
besetzte Hügel im Wald eine Fortsetzung hat und treten lustlos gegen die Schwerkraft.
Nach dem Zeltbau steigen wir in die Stadt hinab, um ausnahmsweise in einem Restaurant essen
zu gehen. Hinter einer Ampel rumpeln wir beinahe mit Etienne zusammen. Das Hinterrad seines
Fahrrades schleift mit einem gigantischen Achter, am linken Schienbein glitzert Blut. Eine
Autofahrerin hat ihn rücklings erwischt, er war zu verdattert, um den Schaden an dem Rad
begleichen zu lassen.
Nach der Mahlzeit in einem englischen Spezialitätenrestaurant kehren wir zum Campingplatz
zurück, die Rülpser, das Schreien und Bellen der Robben an der Fishermanwharf begleiten
uns. Selbst auf unserem Hügel, der mindestens fünf Kilometer vom Hafen entfernt ist,
hören wir die Tiere. Monterey liegt wie ein Amphitheater um die Bucht, jede Nacht gibt
es ein Robbenkonzert.
Musik machen auch die Soldaten des benachbarten Luftwaffenstützpunkts. Zuerst sehen wir
eine Gruppe in marschmäßiger Zweierreihe über den Zeltplatz joggen, ihnen voraus
dröhnt ein Männerlied, die Zeile wird jeweils vom Chef der Banda vorgesungen, seine
Mannen wiederholen mit rauen Stimmen. Abends um zehn Uhr spielt ein Trompeter Zapfenstreich
und morgens ist vor den Brüllereien des Appells der geblasene Weckruf zu hören.
Wir lassen uns nicht scheuchen, und legen, auch Kerstins erkälteter Nase zuliebe, einen
Rekreationstag ein. Bernd nimmt Etiennes verbogenes Hinterrad zwischen die Knie und versucht
per Speichenschlüssel den Achter zu entfernen. Vielleicht auch wegen der Auswechslung
von elf zerstörten Speichen bleibt der Knick renitent. Nach fünf Stunden Schrauberei
gibt Bernd entnervt auf, hat das Rad jedoch so weit auf Spur gebracht, dass Etienne zum nächsten
Radgeschäft fahren kann.
Auf unser nächstes Ziel, Big Sur, hat uns niemand vorbereitet. Kerstin hat in Erinnerung,
dass diese Region sehr bekannt ist, sie hat jedoch vergessen, aus welchem Grund. Big Sur verbirgt
sich hinter Nebel. Auf dem Pfeiffer Big Sur Campground fragt Kerstin eine Outdoor-Trainerin
aus San Francisco, was an diesem Küstenstreifen einmalig sein soll. Die Dame guckt freundlich
aber befremdet und antwortet: "Die Landschaft". Wir stellen die Zelte in den Schatten
der Redwoods, und haben noch immer nichts verstanden. Die Bäume schützen uns vor
der Morgensonne. Nachdem wir mit den Resten in unseren Spritflaschen einen Kaffee gekocht haben,
machen wir uns an den ersten von zwei Hügeln auf dieser Etappe. Bernd tritt ein wenig
vorsichtiger als sonst, weil ihn seit gestern die rechte Achillessehne schmerzt, vielleicht
ist sie vom Sandalen-Radeln überanstrengt.
Nach wenigen Kilometern erleben wir Big Sur. Die grasbedeckten Berge wachsen aus dem Pazifik,
sie kommen ohne Felsen als Zwischenstufe aus. Die Felsen stehen ein Stück vom Ufer entfernt
im Wasser, von dort hören wir die Rufe der Robben und Seelöwen. Die Sonne zieht Schweiß
aus unserer Haut und Nebel aus dem Meer. Wir genießen klare Sicht und fahren dann durch
den dunstigen Eingang eines Canyons und wieder an die Sonne. Der Nebel schwebt wie ein Schleierbalken
in halber Berghöhe. Wir staunen über die Lichteffekte.
Lucia ist im Godfather als Ort eingetragen. Das Buch hat uns getäuscht. Lucia ist eine
Landgaststätte mit angeschlossenem Lebensmittelgeschäft. Das saftigste Produkt sind
die Preise. Wir hätten für ein Sechserpack Bier neun Dollar zahlen sollen, und Spinat,
auf den wir uns seit Tagen freuen, fehlt in der Kühltruhe. Wir werfen wieder einmal den
Menüplan über den Haufen und kaufen für Tomaten-Thun-Knoblauch-Spaghetti ein.
Wir hätten hören sollen, als Etienne und Simon uns erzählten, die Versorgungslage
sei in Big Sur schwierig. Sie sind klüger gewesen als wir und haben Etiennes Trailer mit
Nahrung beladen. Trotzdem ist ihre Küche schlichter als die unsre, sie bereiten sich fast
jeden Abend mit Reis und schwarzen Bohnen auf den Geschmack Mexikos vor.
Am Kirk Creek Campground stellen wir die Wecker auf zwei Uhr morgens, denn für diese Nacht
ist ein Meteoritenschauer angesagt. Wir schlafen ein, die Finger gekreuzt in der Hoffnung,
der Nebel möge sich in dieser Nacht zurückhalten.
Als Benedikt ans Zelt klopft, liegen die tiefen Wolken tatsächlich nur als schmales Band
weit draußen über dem Pazifik, wir haben freie Sicht auf Sternhaufen, Milchstraße
und sämtliche Schnuppen. Der Himmel bombardiert uns mit Sternblitzen. Manchmal sind drei,
vier, fünf verglühende Sternbrocken gleichzeitig zu sehen. Ihre Schweife bleiben
für Sekunden am Nachthimmel stehen. Wir wünschten, den Kopf um 360 Grad drehen zu
können, um keine der Schnuppen zu verpassen, es fallen uns nicht genug Wünsche ein,
noch immer regnen sie herab. Was wäre eigentlich, wenn uns einer der Klumpen aus dem All
träfe? Die Erde rast für eine Stunde durch einen Meteoritenschwarm, stell dir vor,
alle Brocken da draußen würden in unsere Atmosphäre tauchen. Wir stehen am
Pazifik und sind weit von der Erde entfernt, möchten wenigstens einen dieser glühenden
Sterntaler fangen und mitnehmen.
Wir schauern unter den Meteoriten, die Kälte der Nacht kriecht unter die Jacken, und wir
danken Big Sur, dessen Berge uns vor Stadtlichtern schützen.