Viva Mexico

Achter Tourbericht vom 12. Dezember 2001 San Diego - Ensenada

              

Mexiko ist bei uns, bevor wir den Grenzübergang sehen. Zwischen die Gegenspuren des Highways Nummer 5 haben die USA einen Stahlzaun gestellt, eines der Hindernisse gegen die Flüchtlinge aus dem Süden, die in den Staaten ein Vermögen suchen würden, wenn man sie ließe. Die letzten Häuser von San Ysidro, dem letzten Vorort San Diegos, sind von Wechselstuben besetzt. Dann mehren sich auch die autolosen Menschen auf den Bürgersteigen, ein ungewohntes Bild für USA-Fahrer. Tagespendler schleppen ihre Einkäufe in Kartons, Säcken und Taschen. Die meisten sind Mexikaner. US-Amerikaner erledigen auch den kleinen Grenzverkehr mit Hilfe ihrer Autos.
Wir suchen die Fußgängerbrücke, weil unsere Reiseführer sagten, sie sei der bessere Eingang für Radler. Eine ratlose Runde spärer lassen wir uns die Zurechtweisung eines Grenzbeamten gefallen. Geht um das Gebäude rum. Und - die Räder müssen geschoben werden! Der Weg nach Tijuana führt durch ein Parkhaus. Wir schieben die im Zickzack ansteigenden Betonrampen aufwärts und betreten eine Galerie, die auf eine beidseits vergitterte Brücke mündet. Eine Verschnaufzigarette wollen wir uns gönnen, doch ein vorbeischlendernder Grenzmann bellt: Keep on walking!
Die erste Schikane ist eine eiserne Drehtüre. Wir balancieren die bepackten Räder auf den Hinterreifen durch die Enge. Hinter uns stehen die Grenzgänger Schlange. Sie lachen, als sie uns ackern sehen, einige Männer packen an und helfen mit ziehen und schieben. Muchas gracias, das sind unsere ersten spanischen Worte in Mexiko, vielen Dank.
Kurz bevor wir daran gehen, uns durch die zweite Drehtür zu winden, fällt Kerstin ein, dass es geschickt wäre, einen Stempel in den Pass und eine Touristenkarte zu verlangen, bevor wir die Grenzanlagen verlassen. Wir sehen einen Zöllner anstelle einer umfassenden Kontrollstation an einen Tisch gelehnt stehen. Von Zeit zu Zeit zeigt er mit einem Finger auf stark beladene Reisende, sie müssen ihre Güter vor ihm ausbreiten. Er weist uns in eine schmale Tür, hinter der ein Mitarbeiter des staatlichen Büros für Immigration sitzt. Nachdem wir die Touristenkarte ausgefüllt und an dem benachbarten Bankschalter je 23 Dollar abgegeben haben, ist er geneigt, seinen Stempel auf unsere Pässe fallen zu lassen. Neunzig Tage Aufenthalt genehmigt uns der Mann, mehr sei leider nicht möglich, eine Verlängerung jedoch in jeder größeren Stadt leicht zu erhalten. Wir fragen bei seinem Kontrollkollegen, ob wir die zweite Drehtür durch ein anderes offen stehendes Büro umgehen dürfen, und dann sind wir in Tijuana und Mexiko angekommen. Keine unserer Befürchtungen ist eingetreten, die Grenze ist für Touristen kein Hindernis, sie ist ein Tor in den anderen Teil Amerikas, den ärmeren Teil. Hier wollen wir suchen, was bei uns daheim unsichtbar geworden ist.

            


Über uns ballen sich Wolken, die den Auszug aus den USA seit dem Campingplatz begleitet haben. Nachdem wir in hartnäckigen Versuchen aus einem Bankautomaten Geld gelockt haben, finden wir ein Hotel. "Alaska" heißt es, aber es liegt in einer heißen Straße. An den Hauseingängen lehnen kurzberockte Senoritas, sie tragen Lippenstift, tiefe Dekolletes und Aufforderung im Blick. Ein paar Straßenmusikanten gehen mit ihren Gitarren, Trompeten und Zieharmonikas spazieren. Es beginnt zu regnen.
Wir wollen noch am ersten Abend mexikanisches Leben schnuppern und suchen zuerst ein Restaurant. Die Chefin des Hauses bringt Krabben und Fisch in scharfer Sauce, dazu Tortillas und Bier. In der Ecke zeigt das Fernsehgerät einen chinesischen Western. Wir verstehen kaum ein Wort der spanischen Synchronsprecher und haben seit Wochen wieder das Gefühl, dass in jedem neuen Tag Geheimnisse auf uns warten werden.
Wir schlendern die Revolución hinunter und wehren lachend die Angebote der Türsteher ab, die uns anbieten, junge Mädchen zu sehen. Sie sind unbeeindruckt von der Anwesenheit von Kerstin und Elisabeth. Wir suchen neue Worte, möglichst spanisch und höflich auf die englischen Einladungen zu antworten.
Die Mex 1 führt aus Tijuana in den Süden. Wir hatten ein wenig feuchte Hände, als wir daran dachten, an ihrer Seite entlang zu fahren. Raphaela und Harald Wiegers hatten in ihrem Radlerhandbuch "Lateinamerika" mit der Mex 1 kurzen Prozess gemacht und sie "mörderisch" genannt. Wir sehen einige plattgefahrene Hunde und ein paar Mal kommen Lkw recht nahe an unsere Satteltaschen, doch Mörder sind nicht in Sicht, hinter Rosarito stirbt statt dessen der Verkehr nahezu. Meist haben wir die Straße für uns allein, sie erfreut mit rüttelfreiem Asphalt.

            


Den Einstieg nach Mexiko wollen wir uns nicht mit Hetze verderben und beschließen, über Nacht in Los Alistos die Zelte aufzubauen. Die 60 Kilometer genügen für diesen Tag, der Nachmittag soll radlfrei sein.
Eine stämmige Köchin erfreut uns mit Burritos, die wir uns als Pausenfüller vor dem Abendessen gedacht haben. Wir zahlen und suchen nach einer anderen Speisequelle, doch die beiden Restaurants im Ort würden unserem Budget, dem wir eine mexikanische Schonkur verordnet haben, nicht bekommen. Also treten wir nach zehn Minuten wieder bei der Dame ein, sie wundert sich nur kurz.
Der Weg nach Ensenada wendet sich landeinwärts und wird hügelig. Was sich seit den USA auf der Straße verändert hat: Mexikaner pflegen ein unkomplizierteres Verhältnis zum Müll. Sie werfen ihn gern in Bodenmulden. Der Wind bringt uns Geruchsproben, einmal sehen wir einen Berg Fische in der Sonne faulen, daneben schmilzt ein Eishügel. Vermutlich sind beide aus der Kühlkette gefallen.
Die Küste ist karger geworden, die Flanken der Hügel begnügen sich mit Grasresten. Spuren von Grün halten nur die wasserspeichernden, dickblättrigen Pflanzen und jene Felder, die täglich gewässert werden. Die Kühe und Pferde wirken trotzdem stämmig, sie sind groß gewachsen und leiden offensichtlich keinen Mangel.

            


In Ensenada überzeugt uns das "Hotel Rosarito". Es kostet vier Dollar pro Person und Nacht in einem Viererzimmer mit eingebautem Bad. Wir ketten unsere Räder an eine Wäschestange und laufen, um das Fest der Heiligen Jungfrau von Guadalupe zu erleben. Um die Kirche ist ein Jahrmarkt aufgebaut, Kinderkarrussels drehen sich, unter Zeltplanen kochen und brutzeln Mexikanerinnen und Mexikaner, was die Gasflaschen hergeben. Die Speisen sind vielfältig und haben den Mais als Bestandteil gemeinsam. Entweder ist das Korn in Form der Tortillas beigefügt, oder es ist direkt hineingemischt, fehlen tut es nie. Wir sind nicht scheu und probieren uns durchs Angebot: Enchilladas mit Käsefüllung, Quesadillas mit Käsefüllung, Tacos mit Fleischfüllung, Maiskolben und Tamales.
Auf den Stufen der Kirche "Nuestra Senora de Guadelupe" stehen zwei Franziskanerfratres. Sie erklären, dass an diesem Abend, der dem höchsten kirchlichen Festtag Mexikos gewidmet ist, zu jeder vollen Stunde eine Messe beginnt. Europäische Priester würden sich nicht mehr kennen, wenn vor eine solch volle Kirche treten dürften. In den Bankreihen ist kein Platz frei, die Menschen drängen sich an den Seiten des Kirchenschiffs und im Mittelgang, manche rutschen auf den Knien vom Eingang bis zum Altar. Mädchen, Frauen und Männer halten Madonnenbildnisse vor der Brust, sie haben die Köpfe erhoben, manche weinen. Um den Altar simmert die Luft von den Kerzen, die zu tausenden brennen. Das Wachs ist in Gläser mit Heiligenbildern gegossen, es würde in der Hitze zerfließen. Die Blumenverkäufer vor der Kirche haben ein gutes Geschäft gemacht, die Altarstufen sind unter den Rosensträußen und Gestecken nicht zu sehen. Fast jeder hat seine eigene Angelegenheit mit der Madonna auszumachen, die Gläubigen beten, jeder für sich und in der Liturgie gemeinsam.

        
        

Sie lassen sich nicht durch gelegentliche Patzer des Priesters stören, sondern dirigieren ihn mit der Gewalt ihrer Stimmen in den allgemeinen Rhythmus. Zur zweiten Abendmesse stellen sich traditionell gekleidete Hombres auf und marschieren unter ihrer Fahne mit Musik ein. Wir gehen, weil wir noch ein wenig von dem abendlichen Leben Ensenadas sehen wollen.
Auch am Morgen reizt uns die Stadt. Wir besuchen das Kulturzentrum. Es ist in einem ehemaligen Casino untergebracht, in dem sich seinerzeit auch Filmstars aus Hollywood vergnügten. Diese Zeiten sind vorbei und haben der Ruhe Platz gemacht, mit der heute das Gebäude zu besichtigen ist. Im Patio stehen ambulante Souvenirhändler, die nicht allzu aufdringlich auf ihre Ware hinweisen. Im Garten plätschern Brunnen und in einem Winkel finden wir zwischen Kakteen eine Krippe aufgebaut.

        
        

Das ruft zwar die Nähe der Feiertage in Erinnerung, versetzt uns jedoch nicht in die entsprechende Stimmung, auch wenn wir gelegentlich in der Dämmerung frösteln. Wir sind noch nicht lange genug von Europa entfernt, um den Charme von Schnee vergessen zu haben.